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Bei den Leisen Tönen. Manchmal braucht es einen Blog, um sich Luft zum Denken zu verschaffen. Keine Steckenpferde, Hobbies oder sonstiges Spezielles, nur Luft zum Denken.

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Auslaufmodell Buch

Dienstag, 15. November 2011

Werbung im Buch

Ich bin natürlich wieder zu spät, denn das große Jubiläum ist längst vorbei. Das war 2006, als Rowohlt 60 Jahre rororo feiern konnte. Rororo steht übrigens für Rowohlts Rotations Romane ( die Bindestriche habe ich weggelassen und die Schreibweise von Google übernommen, Rowohlt selbst sagt auf seiner Internetpräsenz nämlich nichts mehr über die Abkürzung rororo, da heißt es nur noch "Der Taschenbuchverlag" ), was auf das äußerst preiswerte Druckverfahren auf Zeitungspapier zurückzuführen war, Wiki weiß das auführlicher. Schon in den 50er Jahren wurde dann im heute noch verwendeten Taschenbuchformat gedruckt.

Mein Anliegen ist es aber nicht, hier ein Jubiläum nachzuholen oder ein Nichtjubiläum zu feiern, sondern vielmehr auf eine kleine Kuriosität aufmerksam zu machen, die mir vor Jahren, als ich mein erstes rororo antiquarisch erstand, zum ersten Mal begegnete. Da lese ich ganz unbefangen und plötzlich erscheint ein Bild auf der rechten Seite. Ich blättere um und lese den kurzen Absatz, nach wenigen Worten wird mir klar, hier geht es nicht um den Inhalt des Buches. Das ist eine Werbeanzeige, für Pfandbriefe. Ich dachte mir da nichts bei, las weiter und vergaß die Sache wieder.

Mittlerweile kaufe ich regelmäßig alte rororo Taschenbücher, manchmal deshalb, weil mir die neuen Bücher schlicht zu teuer sind. Meistens jedoch kaufe ich sie, um mir das Bild und den Werbetext irgendwo in der Mitte des Buches herauszusuchen und durchzulesen. Das kostet mich im Schnitt 1,50 pro Buch und hin und wieder lese ich das ein oder andere dann sogar im Ganzen und wundere mich dann, dass mir der Autor vorher nie untergekommen ist.

Ich möchte meine Büchervorstellung deshalb nicht mehr am Inhalt des Buches, sondern am Werbetext festmachen. In meiner Rubrik "Auslaufmodell Buch" werde ich in der kommenden Zeit immer mal wieder eines meiner alten rororos heraussuchen und den Werbetext vorstellen. Vielleicht lasse ich auch den Autor mit einem Zitat zu Wort kommen, vielleicht auch nicht. Und anfangen möchte ich heute mit einer berühmten Anekdote. Diese findet sich recht häufig in den rororos und geht auf das Schreiben eines Schülers an Kurt Tucholsky zurück. Der Schüler wünschte sich, dass Tucholsky hoffentlich bald stürbe, damit seine Bücher billiger wurden.

Autor: Günther Grass
Titel: Treffen in Telgte
beworbenes Produkt: Pfandbrief und Kommunalobligation
Fundstelle: zwischen S. 146 und 147


"Macht unser Bücher billiger!...
... forderte Tucholsky einst, 1932, in einem "Avis an meinen Verleger". Die Forderung ist inzwischen eingelöst.
Man spart viel Geld beim Kauf von Taschenbüchern. Und wird das Eingesparte gut gespart, dann zahlt die Bank oder Sparkasse den weiteren Bucherwerb: Für die Jahreszinsen eines einzigen 100-Mark-Pfandbriefs kann man sich zwei Taschenbücher kaufen.




Bildquelle: Günter Grass, Das Treffen in Telgte, Rowohlt Taschenbuchverlag Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Juli 1981

Montag, 24. Oktober 2011

Richard Brautigan: Träume von Babylon

Vor zwei Wochen so gegen 21:00 Uhr fuhr ich mit überhöhter Geschwindigkeit auf dem Zubringer zur A7. Mein Ziel war Bremen, wo gegen 22:30 Uhr der Bruder meiner Freundin vom Flughafen abgeholt werden musste. Die Autobahn war frei. Es war dunkel. Wie ein verlorener Schnürsenkel schlängelte sich das schwarze Band in leichten Links- und Rechtskurven auf sein Ziel, die A7, zu. Die A352 führt auch am Flughafen vorbei, an großen Industrieanlagen und an den Logistikern, die sich zwischen den hier verlaufenden Autobahnen angesiedelt haben. Leuchtreklame, die blinkenden Lichter des Flughafens, umliegende Straßenbeleuchtung und auch das ein oder andere Fahrzeug erweckten den Eindruck, als führe ich durch eine große leuchtende Platine. Komischerweise waren die Leuchtreklame der Industriehallen fast immer in blau gehalten.

Ich fuhr gerade an den Hallen des Großlogistikers Hermes vorbei, als mich Babylon erwischte. Bisher wurde ich nie von Babylon heimgesucht. Ich wurde auch heimgesucht, und wie mir neulich ein versierter Pädagoge erklärte fängt so etwas meist in der Pubertät an und je nach Begabung kann man sein gesamtes Leben davon begleitet werden. Ich träumte nicht von Babylon, will es aber in Anlehnung an Brautigans Krimi einmal so nennen. Ich träumte von der Zukunft, meiner Zukunft.

Wovon träumt man, wenn die letzte vage Erinnerung eine blaue Leuchtreklame von Hermes ist? Natürlich man träumt vom Götterboten, von Homo Fabers Schreibmaschine, von dem einzigen Buch, das mir während der Schulzeit gefallen hat, obwohl es auf dem Lehrplan stand. Ich träumte davon Lehrer zu werden. Ich unterrichtete meine Schulklasse im Beisein der Hospitanten und brachte ihnen alles über Homo Faber bei. Ich forderte die Klasse auf, ans Fenster zu gehen und mir zu erklären, was es mit dem Hermes-Transporter auf sich habe. Wir erörterten all die wichtigen Stellen. Meine Schüler waren Feuer und Flamme, die Lehrerin und mein Dozent von der Uni waren begeistert. Es lief einfach fabelhaft. Ich wurde gefragt, ob ich nicht in einer anderen Klasse vertreten wolle. Natürlich wollte ich.

Und dann, dann kam die Abfahrt auf die A27. Hier gab es keine Leuchtreklame mehr, keine umliegenden beleuchteten Straßen. Der Strom war abgestellt, nicht existent. Hier gab es nichts als Dunkelheit und rot leuchtende Augen der Fahrzeuge vor mir. Ich strömte dahin. Ich verpasste die Abfahrt, fuhr an ihr vorbei und merkte es erst als die A7 kurz dahinter zweispurig wurde. Ich beging jetzt keine Fehler mehr, dachte an "Eye", der ständig zu weit fährt und zurück laufen muss, weil er keine 5 Cent für das Busticket hat. Ich konzentrierte mich auf die Dunkelheit. Ich wendete bei der nächsten Abfahrt und fuhr zurück, nahm die Ausfahrt und war 10 Minuten nach dem Flieger am Flughafen.

Sonntag, 10. Juli 2011

Aldous Huxley: Kontrapunkt des Lebens I

Ich sage mir mit jeder Seite: es kommt eine weniger nach dieser. Wenige Bücher zogen sich bisher so in die Länge wie dieses Eine, und dennoch ich habe mich festgebissen in des England des frühen 20. Jh.
Es dauert und jeder neue Ansatz ist ein Kampf. In dieser Beständigkeit des Orts- und Personenwechsels, der Dauer der Lesepausen und dem kurzen Aufblühen der gewaltigen - Philip Quarles würde gargantuesk sagen, weil im rabelaisisch zu gebildet vorkommt - Erzähldichte an einem Abend wie heute, wenn ich mich denn endlich einmal wieder dazu hinreißen ließ, weiterzulesen; darin liegen auch die Stärken und Schwächen des Romans verborgen. Bezeichnend war in diesem Fall die Wiedergabe eines Diktats an die halbtags bei Quarles sen. beschäftigte Sekretärin, bei der ein Komma mit zwei Kommata eingefasst wird. Mit dieser Verfielfältigung werden ganze Kapitel erklärt, erscheinen in einem neuen Licht. Aber ist es wirklich eine Vervielfältigung? Denn zuerst ist es ja nur ein Zeichen, dann ein ganzes Wort und dann wieder nur ein Zeichen. Das las sich folgendermaßen: " Manche Denkah sind, Komma, üch weiß es, Komma, imstande, Komma, diese..."

"..., Komma,..."

Meine Oma hat früher für mehrere Ärzte Diagnosen und Korrespondenz auf Schreibmaschine abgetippt. Die Ärzte haben diktiert und meine Oma hat getippt. Von zu Hause aus, die Bänder bekam sie per Post. Meine Oma ist gelernte Krankenschwester, kannte sich also mit den Fachbegriffen aus, und schnell tippen konnte sie auch. Diese Kommata - oder Kommas - waren kleine Pausen, anstatt eines Wortes aus vielleicht 5 Buchstaben zu tippen, konnte sie jetzt ein kleines Zeichen loswerden und pausieren, während der Sprecher oder die Sprecherin noch mit der zweiten Silbe beschäftigt war.

"..., Komma,..."

Da liest man also ein ganzes Kapitel und plötzlich reduziert sich das Gelesene auf ein Komma. Die ganze Handlung sind Kommata, das darf man dabei nicht vergessen, denn in dem Buch passiert ja eigentlich nichts. Nur ein ständiger Wechsel von Orten und Personen. Meine Leseeindrücke sind Kommata; Pausen vom Draußen, wenn ich mich dazu durchrang, weiterzulesen; die mir im Buch wieder begegnet sind.

Montag, 20. Juni 2011

Ordnung ist das halbe Leben...

Das Buch wird digital. Einer Anregung folgend habe ich mich endlich dazu durchgerungen, meine Literatur zu ordnen und Mitgenommenes in einer Datei zu speichern. Es ist bisher erst ein Titel aber die Arbeit damit ist zum Einen sehr einfach und zum Anderen sehr hilfreich, wenn ich später darauf zurückkommen will. Luhmanns Zettelkasten habe ich mir dabei noch nicht zu Gemüte geführt und mich auch entgegen der empfohlenen Software für Citavi entschieden. Das hat den Vorteil, dass es auf Deutsch ist und den Nachteil, dass man es bei vollständiger Nutzung bezahlen muss, da pro Katalog nur 100 Titel zur Verfügung stehen. Den Nachteil habe ich bisher noch erreicht. Ich werde zu gegebener Zeit mehr davon berichten.

Donnerstag, 16. Juni 2011

César Aira: Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo II

Wir erkennen plötzlich die kleinen und großen Zusammenhänge. Mit jedem neuen Satz entschleiert sich das Sichtfeld."Häufig sind scheinbar unabhängige Ereignisse durch ein kausales Band verknüpft; täuschen lässt man sich durch die Gleichzeitigkeit, die einen Zufall suggeriert." Wir dröseln die Gedankenwelt Varamos auf, holen die Fäden hervor und stricken eine Kausalkette, die von Gleichmäßigkeitsrennen über Anarchisten bis hin zu falschen Geldscheinen führt. Wo diese Kette anfängt, ist gar nicht mehr so richtig klar dabei, denn nicht mit dem Erscheinen der beiden falschen Scheine, ist ihre Existenz erklärt. Völlig unbegründet, denn die Seiten fliegen nur so dahin, meinen wir plötzlich, es ginge nicht vorwärts im Buch und doch stehen wir nicht, der Zug stand vielleicht. Ein verspäteter ICE war auf der Überholspur. Ich saß diesmal nicht im Fahrradabteil, dort war kein Platz mehr. Ich saß in einem der Gänge auf der Zwischenetage, dort wo man sitzt, wenn man weder unten noch oben sitzen will - oder kann, weil alles voll ist - dort, wo sich der Übergang von einem Wagen in den nächsten befindet.

Die Frage, was zuerst da war, stellt sich uns immer wieder. Auch die Umkehrung dieses Effekts passiert ständig. Varamo geht an einem Haus vorbei, dessen Gast er später wird. Die Bewohner schmuggeln Golfschläger und senden undefinierbare Laute über den Äther, die Varamo immer hören kann, wenn er dort vorüber geht, was er immer tut, um pünktlich seinen Kaffee zu trinken. Es stellt sich heraus, dass die Signale nur Varamos Pünktlichkeit wegen immer um diese Zeit abgesendet werden, wäre er nicht so pünktlich hätte er sie vielleicht nur wenige Male mitbekommen. Seine dadurch eingebildete Geisteskrankheit steht also im kausalen Zusammenhang mit seiner Pünktlichkeit - Zuverlässigkeit, Pflichtgefühl? Ohne es gewollt zu haben, richten sich andere nach ihm - dem unscheinbaren Staatsdiener - vielleicht wäre er besser Anarchist geworden.

Hamburg. Der Zug hielt in Hamburg-Harburg und mir wurde klar, dass ich mit dem Ende des Buches auch mein erstes Ziel erreichen werde, Hamburg Hauptbahnhof. Von dort aus geht es weiter zum Berliner Tor. Ich bin immer noch meine Insel, alles um mich herum ist fremd. Immer wieder denke ich an das Gedicht, das im Buch nicht zu finden war. Ich stelle mir vor, wie es wohl klingen mag.
Ich steige in die S-Bahn und bin nach wenigen Minuten dort, wo mich in einer halben Stunde ein Auto abholen wird, um mich an mein letztes Ziel des Tages zu bringen, Wismar. Das Buch ist in meinem Rucksack - und in meinem Kopf; gleichzeitig.
Nach hinten raus, in Richtung Bürgerweide führt mich mein Weg. Ich komme aus dem Bahnhof heraus, wende mich nach rechts und laufe unter der Unterführung durch. Zu meiner rechten rückt ein kleiner grüner Platz in mein Blickfeld, umsäumt von breiten und stark befahrenen Straßen. Dort fressen sich mehrere kleinere und zwei große Hasen am Gras satt. Ich muss schon wieder an die Insel denken und plötzlich erkenne ich: Der Roman ist das Gedicht.

Mittwoch, 15. Juni 2011

César Aira: Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo I

"Obacht vor der Prokrastination, die der Literatur soviel Schaden zugefügt hat." Das geben die Verleger Varamo mit auf den Weg, und wenn ich bedenke, welche beiden mächtigen Bücher da noch auf mich warten, dann beschleicht mich das Gefühl, genau dieser zu unterliegen. Meine Rechtfertigung, auf Zugreisen mit leichtem Gepäck zu verreisen, klingt dann wie eine billige Ausrede. Aber tatsächlich, so war es. Ich wollte lediglich Platz in meinem Rucksack haben und nicht so schwer tragen müssen, also kam mir das dünne bunte Büchlein in die Tasche.

Die Welt war Colón; Colón war der Platz. Wie in vielen lateinamerikanischen Städten scheinen die Regierungsviertel um große Plätze herum angelegt worden zu sein. In der Mitte sprießt ein kleiner Park, der trotz all der Hektik um ihn herum - schließlich wird der Verkehr ja im Kreis um den Park an den Regierungsgebäuden vorbei geleitet - ein Ort der Entspannung sein kann; eine Insel im Meer der Autohupen, Händler, Passanten und nicht zuletzt sogar Vögel, die alle etwas zu sagen haben. Meine Insel war ein Platz in der zweiten Klasse des Metronoms nach Hamburg, im Fahrradabteil habe ich zwischen Kinderwagen, Fahrrädern, Kindern, Müttern, Fahrradfahrern mein Lager aufgeschlagen. Im Klappentext ist von einem Gedicht die Rede, ich blätterte im Buch auf der Suche danach, fand nichts als ganze Seiten ohne Absätze. Erinnerungen an "Das Parfüm" wurden wach und meine positive Grundstimmung wollte kippen. Die Schienen halten jedoch alles fest, kein Schlenker, kein Gegenwind ist stark genug, um mich jetzt nicht in das Buch vertiefen zu können - zu müssen, das Chaos stieg proportional zum sinkenden Platzangebot; mit jedem Bahnhof zog ich mich enger zusammen, um den Menschen Platz zu machen.

Es sind die kleinen Augenblicke, denen dieses Buch gewidmet zu sein scheint. Immer wieder rekuriert das gerade Gelesene auf etwas Vorangegangenes und immer wieder deuten die Details in die Zukunft. Es ist beinah so, als läse man das Buch von allen Seiten gleichzeitig. Das bekam ich nicht mit, zumindest nicht gleich. Natürlich hatte ich wie immer einen Marker und einen Kugelschreiber dabei und markierte damit fleißig beim Lesen. Auf S. 29 erst wurde mir plötzlich klar, wie das Buch funktioniert. Ich sollte des hohen Tons wegen auf S. 9 zurückblättern, tat dies, las noch einmal und blätterte wieder vor. Befriedigt und irgendwie unpassend schaute ich in die Runde.

Varamo läuft über den anfangs beschriebenen Platz und wir laufen mit. Wir können den Krach förmlich riechen - und das Rascheln der beiden falschen Hundertpesoscheine in seiner Tasche. Natürlich umtreiben ihn Sorgen, trotz der gehorteten Konserven, alles wird plötzlich klar und bekommt einen Sinn; warum das Kleingeld doch im Gegensatz zu den großen Scheinen einen so großen Wert hat, in seinem Fall hat es sogar einen doppelten Sinn, denn das Geld zu wechseln traut er sich nicht. Ich wechselte jetzt meinen Platz. Ich wechselte auf der Hälfte der Strecke den Zug, denn es ist zwar widersinnig in Uelzen von einem aus Göttingen kommenden Metronom in einen anderen Metronom einzusteigen, der aus Hamburg kommt, um beide Metronome dann wieder zu ihren Ursprungsbahnhöfen zurückfahren zu sehen, aber ob man das will oder nicht, danach wird nicht gefragt, das wird eben so gemacht. Nein, so war es nicht ganz, nur einer fuhr zurück, der andere wurde gegen einen leeren Metronom ausgetauscht, der sich unweit des Bahnhofs in den eigens dafür gebauten Lagerhäusern befand und mit dem jetzt ebenfalls leeren Metronom seinen Platz tauschte...

Freitag, 10. Juni 2011

Künstliche Menschen

Die Erscheinung des künstlichen Menschen hat sich im Laufe der Jahrhunderte einem fortwährenden Wandel unterzogen, sie fand Eingang in die unterschiedlichsten Kulturkreise und ist bis heute präsent geblieben. Der Schritt aus dem Reich der Phantasie in die Wirklichkeit ist dabei längst getan, Automaten, Maschinen, Roboter sind Teil unseres Lebens. Doch nicht nur an der Erscheinung selbst vollzog sich dieser Bedeutungswandel, auch der Schöpfer erlag dieser Veränderung. Er wandelte sich vom Künstler, zum Magier und schließlich zum Gelehrten. Das Einzige, was dabei fortwährend Bestand hatte, ist das Verhältnis zueinander. Der Schöpfer erschafft sich einen Diener.

Die Reflektion und Thematisierung von kultureller und wissenschaftlicher Entwicklung innerhalb der Literatur hält bis heute an. Von eminenter Wichtigkeit erscheint diese Entwicklung zur Zeit der Aufklärung, denn das dort geprägte Bild vom Schöpfer und seinem Diener erfährt neben einer allgemeinen Renaissance den Wandel vom magischen zum technischen Verhältnis.

Künstliche Menschen sind jedoch nicht erst seit der Epoche der Aufklärung Gegenstand der Literatur. Eine der ältesten Überlieferungen ist in der griechischen Mythologie zu finden, wonach Prometheus, den ersten Menschen formte und Athene ihm durch einen Schmetterling Leben einhauchte. Ovid beschrieb in den Metamorphosen Pygmalions Liebe zu der durch ihn geschaffenen Elfenbeinstatue, die auf seine Gebete zum Fest der Venus hin lebendig wird und seine Liebe erwidert. Ein anderes Beispiel findet sich bei Polybios. Sein Tyrann Nabis verfügte über eine Maschine, die seiner Frau Apega bis aufs Haar glich. Sie ermöglichte es ihm seine Forderungen gegenüber dem Bürger durchzusetzen, indem sie die Arme um ihn schlang und ihn an sich heranzog. Die Arme und die Brüste waren mit eisernen Nägeln beschlagen und entlockten dem Bürger entweder das von Nabis geforderte Geld oder er starb in ihren Armen. Hier erscheinen gleich drei unterschiedliche Erbauer und mit ihnen auch drei unterschiedliche Geschöpfe. Der Prometheus, der Titan und Göttergleiche, als Schöpfer der Menschheit sollte im eigentlichen Sinne ausgeklammert werden, allerdings ist er der Vorbote einer anmaßenden Menschheit, die das Werk der Schöpfung selbst in die Hand nehmen will. Bei Pygmalion und Nabis stehen hingegen nicht die Anmaßung, sondern vielmehr die Zweckmäßigkeit im Vordergrund. Außerdem sind beide Schöpfer bereits Menschen, der eine ist Künstler, der andere Tyrann.
Im Mittelalter setzt sich die literarische Auseinandersetzung mit dem Stoff weiter fort. Der Türhüter des Albertus Magnus, ein eiserner Kopf, der sogar sprechen konnte, die Golemsage um Rabbi Löw aus Prag und die Sage vom Holzmenschen aus der chinesischen Tripitaka sollen hier als Beispiele für die unterschiedlichen Kulturkreise und ihrer Verarbeitung des Motivs genügen. Zudem sind auch die antiken Inhalte weiter verarbeitet worden.

Beredte Zeugnisse der neuerlichen Weiterentwicklung des Kunstmenschenmotivs gehen auch mit dem Fortschritt der Wissenschaft einher, die Renaissance lieferte dafür einige Beispiele. Als besonders markantes Beispiel sollen hier die Ausführungen Paracelsus zur „Putrefaction“ und „generatio“ in der Schrift „De generatione rerum naturalium“ genannt werden. Er unterscheidet dabei die natürliche Erzeugung „ohne alle Kunst“ und die künstliche „durch alchiam“. Beide Prozesse bedürfen jedoch der „feuchten Wärme“. Aus diesem Prozess kann dann in wohlgefälliger Form – das heißt nicht gotteslästerlich – ein Homunkulus gezüchtet werden, der, sobald er eine gewisse Größe und Alter erlangt, über alle Geheimnisse der Welt verfügt.

Der Sieg des Individuums über die Masse – dies ist durchaus schon eine Errungenschaft der Renaissance, der Künstler zum Beispiel tritt aus seiner Anonymität hervor – bildet abgesehen von der Notwendigkeit seiner Identifizierung in frühkapitalistischer Zeit ein solides Fundament für alle Bereiche der Wissenschaft und treibt im 17. Und 18 Jh. ihre Blüten. Nicht nur die Medizin profitiert davon. Es kommt zur Begründung gänzlich neuer Wissenschaften, die nicht unbedingt neu im eigentlichen Sinne des Wortes sind, aber in ihrer Abgrenzung und Definition etwas Neues darstellen. Die Wiederentdeckung des Menschen in Kultur und Wissenschaft ist die Renaissance der Epoche der Aufklärung. Mit der Frage, was ist der Mensch muss natürlich auch die Frage einhergehen, was ist der Mensch nicht. Der Mensch ist nicht mehr nur stummer Diener sondern vielmehr Schöpfer. Den Mut zu haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und dies auch öffentlich zu machen sind die Maximen des aufgeklärten Menschen. Der Prometheus der Aufklärung, Goethes Prometheus, ist wieder der Vorbote, die Spitze des Eisbergs. Den Stimmen der Mahner und Moralisten entkommt er nicht gänzlich, sie sind in der Literatur des 18. Jh. immer noch in der Überzahl aber der Mensch als Schöpfer ist literarisch nicht mehr aufzuhalten. Schrieben die Jakobs ( Jakob Emden und Jacob Grimm ) noch von einem bösen Ende des Schöpfers der Golems, so ist nicht einmal 50 Jahre später schon ein guter Ausgang der Sage möglich. Lawrence Sterne, der englische Pedant zu Jean Paul, und viel später Raoul Hausmann führen den Homunkulus ins Possierliche. In Goethes Faust dient er nur noch der Ablenkung vom Wunsche Fausts, Helena zu besitzen.

Das schöpferische Element der Aufklärung lebt allerdings nicht nur von einem Zustrom immer neuer Verarbeitungen alter Stoffe, es entstehen auch etliche Neuentwicklungen. Johann Christian Wiegleb fertigt in „Vaucansons Beschreibung eines mechanischen Flötenspielers“ eine literarische Skizze zum Aufbau und der Funktionsweise des künstlichen Musikanten an, den Vaucanson 1737 erbaute und der ein Repertoire von 12 Liedern spielen konnte. Wiegleb war es auch, der dem künstlichen Menschen des Albertus Magnus ( nach der Sage, nicht nur ein eherner sprechender Kopf, wie er vielen Gelehrten des Mittelalters zugeschrieben worden ist, sondern ein komplett künstlicher Mensch ) seine Daseinsberechtigung gegenüber der kirchlichen Meinung, dass solch eine Kreatur teuflisch sein müsse, verteidigt. Aus der Zauberei wird Wissenschaft. Auch Jean Paul nimmt sich des Stoffes an und ersinnt in der aufkommenden Euphorie der Automatenherstellung einen Menschen, der sich für jede erdenkliche Tätigkeit, die ein Mensch durchzuführen hat, ein maschinelles Pendant entwickelt, um sich diesen lästigen Tätigkeiten zu entledigen. Dabei entstehen nicht nur Vorläufer heutzutage nicht mehr wegzudenkender Hilfsmittel wie zum Beispiel die Schreibmaschine, sondern auch Maschinen, die so abwegige Funktionen wie das Kauen von Nahrung vollführen.

Der künstliche Mensch hatte also schon immer seinen festen Platz in der Literatur und fast jede literarische Epoche setzte sich auf ihre Weise mit dem Phänomen auseinander. Neuerliche Entwicklungen in der Wissenschaft – ob nun die Medizin, das neu eröffnete Feld der Psychologie oder die Physik und Chemie – erschlossen der Literatur ein schier unerschöpfliches Arsenal an Ideen, Nuancen und Fokussierungen. Der eigentliche Akt der Schöpfung, die Wahrnehmung durch den Menschen oder auch seine moralische Verteidigung können bei der Verarbeitung des reichhaltigen Angebots nur noch Stichproben liefern. Vollständig erfassbar ist das Phänomen wohl nicht mehr.

Dienstag, 31. Mai 2011

Fante?

Fante ist kaum zu kriegen. Fast könnte man meinen, niemand möchte damit Geld verdienen. Vielleicht verdient man mit solcher Literatur aber auch einfach kein Geld mehr.
Wenn ich den zweiten Antiquar meines Vertrauens aufsuche, der neben den alten Schinken auch in neubestellbare Bücher macht, dann spricht dieser irgendwann immer davon, dass die wirklich guten Autoren sowieso nur einmal gedruckt und erst recht erst berühmt werden, wenn sie tot sind. Überhaupt ist der Buchmarkt ein Archipel, das wegen steigender Pegel aus nur noch zwei Inseln besteht, dem stationären und dem Internethandel. Der Internethandel ist fest in Amazonhand - es spielt keine Rolle, ob ZVAB, Abebooks oder Amazon, das ist alles der gleiche Mist - und der stationäre sind entweder die Liebhaber, die online nach China und Japan verhökern, wie mein zweiter Antiquar oder aber irgendwelche Buchketten, deren Mitarbeiter zwar die Klappentexte kennen aber vom Inhalt keine Ahnung haben.
Aber Fante, den kriegt man nicht. Es ist wohl ein bißchen so, wie eine Frau für Dino Rossi zu finden. Da kann man sich drum kümmern aber am Ende bleibt alles beim alten.
So suche ich weiter nach Arturo Bandini und werde mich so lang mit den Schwergewichten in meiner Liste begnügen.

Samstag, 14. Mai 2011

Die astralen Novelletten : Scheerbart III

Von der spekulativen Philosphie

Teil I
Teil II

Wenn Timaios davon spricht, dass die Welt nur sich selbst genügen müsse, ohne auf andere angewiesen zu sein, demzufolge eine für sich perfekte Form darstellt, bedeutet dies im Umkehrschluss jedoch, dass sich die Bewohner auch ihrem Planeten anzupassen haben, wenn sie mit ihm in Einklang leben wollen. Diese Erweiterung des platonischen Weltseelekonzeptes ist bei Scheerbart ebenfalls häufig zu finden. Daraus erwachsen in den verschiedenen Novelletten mehrere Probleme, die auf höchst unterschiedliche Weise gelöst werden. In der Venusnovellette z.B. leidet die Bevölkerung, die aus zwei unterschiedlichen Spezies besteht, an einer Verknappung des Platzangebotes wegen der hohen Fruchtbarkeit des Sterns. Die Fortpflanzung geht hierbei völlig unerotisch vonstatten und ist ähnlich der Nahrungsaufnahme eher ein Reflexakt, vergleichbar mit der Atmung des Menschen. Es hält den Menschen notwendigerweise am Leben, man kann es aber nicht vergessen oder sein lassen, ohne zu sterben. Die Bewohner aber sind dem Leben genauso verpflichtet wie der Mensch und so wird die Situation immer schwieriger. Während die eine Spezies eher faul am Boden liegt, ist die andere ständig in Bewegung und braucht deshalb sehr viel Platz. Das Problem wird gelöst, indem Heißlufteruptionen zum Auffüllen riesiger Ballons benutzt werden, die in entsprechender Höhe angebracht, den für die zweite Spezies so wichtigen Platz schaffen. Die Lösung wird von der Tektonik des Planeten begünstigt. Die Wechselbeziehung, die durch die Fruchtbarkeit, die Nahrungsbereitstellung des Planeten für seine Bewohner und nicht zuletzt die Heißlufteruptionen gekennzeichnet ist, zwischen dem Planeten und seinen Bewohnern wird verstärkt.
Ein ähnliches Problem haben die Bewohner Vestas, die ebenfalls unter der Unangepasstheit an ihren Heimatplaneten leiden. Durch ständige Bewegung auf dem Meer und dem Versuch des Gegensteuerns der Bewohner entsteht statt einer Wechselbeziehung ein Abhängigkeitsverhältnis der Bewohner zu ihrem Stern. Sie sind quasi darauf angewiesen, sich ihren Lebensraum zu erkämpfen, anstatt ihn in Einklang mit der Bewegung Vestas zu nutzen. Dass dies möglich ist, beweist das Ende der Geschichte und viel eminentere Fragen des Daseins rücken für die Bewohner in den Fokus: die Lobpreisung des Himmels, der die Vestabewohner mit Nahrung versorgt. Das Bestreben der Bewohner dem Himmel nahe zu sein, erwächst hier aus zwei Faktoren heraus. Zum Einen geschieht das, weil der Himmel der Ernährer der Bewohner ist und zum Anderen ist der Blick auf ein „Dahinter“ oder das Unbekannte durch dichte Wolkenmassen versperrt, was den Mystifizierungseffekt des Ersteren noch verstärkt. Dem Himmel näher zu sein, ist für die Bewohner somit von großer Bedeutung. Die negative Konnotation des „Turmbaus zu Babel“ durch seine Folgen, der Sprachverwirrung, entfiele, wenn ein Vergleich der alttestamentarischen Überlieferung herangezogen würde. Statt gottgleich wollen die Bewohner ihm nur näher sein, den Himmel und seine Geheimnisse erforschen. Dass diese Verbindung keineswegs aus der Luft gegriffen ist, bewies bereits Speier in seinem Aufsatz zu „Lesabéndio“, er brachte jedoch den Mondroman „Die große Revolution“ damit in Verbindung – sah ihn kompositorisch sozusagen als Vorstufe zu „Lesabéndio“, da dort entgegen dem in beiden Romanen bestehenden Widerstand das Bauvorhaben in die Tat umgesetzt wird. In „Lesabéndio“ führt es sogar zur Erlösung der Bewohner und dem Aufgehen in etwas Höheres. Nicht kompositorisch sondern motivisch gesehen stellt dann die Vesta-Novellette eine Vorstufe des Romans dar, denn auch hier geht es um den Turmbau. Auch hier ist das Motiv positiv besetzt, wenngleich der Abschluss in seiner Kürze keinen Aufschluss über die langfristigen Folgen für seine Bewohner gibt.
Ein drittes Beispiel sei noch kurz angeführt. Dabei versuchen sich die Bewohner Junos zu erinnern, wie sie zu ihrem jetzigen Leben gekommen sind. Die Bewohner sind zu Baumriesen geworden mit weitverzweigten Ästen und Wurzeln, die sich um die scheibenförmige Welt in Form einer Kugel ausgebreitet haben. In der Mitte der Scheibe jeweils zur Unter- und Oberseite sind sie am höchsten. Zum Rand hin flachen sie ab, so dass der Eindruck entsteht, Juno sei eine Kugel. Das Einheitsprinzip von Bewohnern und Stern wird hier auf die Spitze getrieben. Sie leben nämlich nicht nur im Einklang mit ihrem Stern, sondern auch längst in Einklang mit sich selbst, was außerdem die Frage einer Harmoniehierarchie aufwirft. Die Frage ist tatsächlich, was kommt wohl zuerst. Ist es die Harmonie der Bewohner mit dem Planeten oder die Harmonie der Bewohner unter sich? Ferner wird hier motivisch ebenfalls auf den „Lesabéndio“ Scheerbarts verwiesen, bei dem die Einzelwesen in einem höheren „aufgehen“ – sich mit ihm zu einem Wesen vereinen. Durch Bratengeruch – wieder eine bizarre Vorstellung – wird das Erinnern der Junobewohner begünstigt. Sie stellen fest, dass sie früher viele kleine Einzelwesen gewesen sein müssen, die sich gegenseitig aufaßen. Dieser Gedanke erscheint ihnen so töricht, dass sie darüber lachen müssen.



Charakter ist nur Eigensinn. Es lebe die Zigeunerin!
Paul Scheerbart


Sind Scheerbarts „Astrale Novelletten“ nun der Science Fiction zuzuordnen? Ist diese generelle Einordnung sinnvoll? Mitnichten. Scheerbarts Dichtung ist zu breit angelegt um in das enge Korsett der Science Fiction gepresst zu werden. Die Elemente von Science Fiction sind in Hülle und Fülle gegeben. Nicht nur die Schauplätze, die mehrheitlich im Weltraum liegen, sondern auch die Protagonisten seiner bizarren Welten, sind außerirdisch. Legt man nur diese Kriterien zugrunde, wäre die Einordnung sinnvoll. Aber am Kern seiner Dichtung – und das kann längst nicht nur auf die „Astralen Novelletten“ bezogen werden – ginge dies vorbei. Sowohl kompositorisch als auch motivisch durchziehen Scheerbarts Werk mehrere rote Fäden, die einmal aufgenommen, in mäandrierender Viel- und Einfalt den gesamten Korpus der Scheerbartschen Dichtung durchziehen. Es beginnt mit philosophischen Betrachtungen der Seele und ihrem Vorhandensein im Unbelebten, schlägt Haken, setzt Naturgesetze außer Kraft, um schlussendlich wieder von vorn zu beginnen, noch einmal zu lesen und tiefer zu graben. Das Große erkennt sich im Kleinen und umgekehrt.
Hier sind nur wenige Beispiele herangezogen worden. Eine Beschränkung auf die „Astralen Novelletten“ schien zuerst notwendig, da der Umfang der Scheerbartschen Dichtung die Grenzen dieser Arbeit gesprengt hätte. Im Nachhinein betrachtet hat es sich als viel zu einseitig erwiesen, um sowohl dem Einzel- als auch dem Gesamtwerk Rechnung tragen zu können. Zurück bleibt ein Gefühl von Unvollständigkeit. Und vielleicht liegt darin auch das hauptsächliche Anliegen Scheerbarts: ein augenzwinkernder Hinweis auf die Vielschichtigkeit unserer Weltanschauungen und dem Wenigen, was der Mensch daraus zur Wahrheit erhebt. Um es mit Fechner zu sagen: „Die heutige Weltanschauung hat das Auge des Flohes auf dem Stiere; der Floh würde den Stier für lebendig halten, wenn er hüpfte wie ein Floh mit den Flöhen. Der Stier aber wandelt langsam mit den Stieren der Herde, gehorsam folgend dem Stabe des Hirten.“

Freitag, 13. Mai 2011

Die astralen Novelletten: Scheerbart II

Teil I gibt es hier.

Von den Naturgesetzen und der Wissenschaft

Während Scheerbart in „Professor Kienbeins Abenteuer“ noch sehr behutsam vorgeht und den Erzähler erzählen lässt, was ein weiterer erlebt hat, ist er an anderer Stelle offensiver gegen die Naturgesetze vorgegangen. Bei der zuerst angesprochenen Novellette trifft der Erzähler auf den Professor, der ihm Tagebucheinträge zum Abschreiben überlässt. Darin ist von einem Neptunwesen die Rede, dass so dünn und feinhörig ist, dass ein Kontakt nur durch die Erfindungsgabe des Professors Kienbein zustande kommt. Die beiden unterhalten sich, das Sichtbarmachen des Wesens scheitert aber. Das Neptunwesen erzählt dem Professor von der Arroganz der Menschheit und ihren Naturgesetzen, bleibt dabei jedoch stets unpräzise. „Es ist einfach – alles komplizierter…“ , hört man das Wesen ein ums andere Mal von sich geben. Der Gravitation setzt das Wesen das Prinzip der Abstoßungskraft entgegen und vergleicht den vom Menschen geschaffenen Kosmos und den darin angeblich vorherrschenden Gesetzen mit dem im 19. Jh. entstandenen Verfassungsstaat. Scheerbart scheint hier beides, Naturgesetze und Verfassungsstaat in ihren jeweiligen Absolutheiten in Zweifel ziehen zu wollen. Im Übrigen ist dies die einzige „Begegnung der dritten Art“ in den Novelletten.
Dass Scheerbart keineswegs nur über „Dritte“ vermittelt, wird in der Jupitermond-Novellette sehr deutlich. Die beiden Forscher, die im Laufe der Jahre 2009 bis 2012 ein großes Teleskop betreiben, benötigen für die Weiterfinanzierung ihres Projekts Ergebnisse. Nach mehrmaligem Ausbau der Anlagen kommt es durch Zufall zu einem ansehnlichen Resultat. Es werden in einer Nacht Hunderte von Bildern produziert, die in den kommenden Jahren ausgewertet werden. Das Prinzip der Luftspiegelung, die Fata Morgana, benutzt Scheerbart in unverschämt unwissenschaftlicher Weise. Hier lässt er die Wissenschaftler einen Nebel entdecken, der durch seine speziellen Luftschichten wie eine Linse funktioniert und den Blick auf den Jupitermond freilegt. Die Atmosphäre dieses Mondes wird entgegen der Gravitation von Flüssen durchzogen, lapidar stellt einer der Forscher hier fest: „Eine Anziehungskraft, die der Anziehungskraft entspricht, die wir auf unserer Erde kennen, existiert auf diesem Jupitermonde nicht. Das überrascht uns ja heute nicht mehr. Vor hundert Jahren wäre das noch ein Ereignis gewesen. Aber wir wissen ja schon längst, daß ein jeder Stern eine ganz besondere Art hat, die Gegenstände und Lebewesen, die sich auf seiner Oberfläche befinden, festzuhalten. Und so gehen auf unserm Jupitermond die Flüsse durch die Lüfte – wie Rankengewächse.“ In der Sonnenring-Novellette geht Scheerbart sogar soweit, den Luft-Yacht-Besitzer Winckler das Prinzip der Gravitation als Irrlehre zu bezeichnen, weswegen er die beiden Passagiere aus Mexiko ausfliegen muss, um sie in Japan in Sicherheit zu bringen. Die Kreisbahn der Planeten um die Sonne ist demnach kein Abhängigkeitsverhältnis. Nicht zum ersten und längst nicht zum letzten Mal werden Sterne zu Personen erhoben, die mit unbestimmter Kraft zu lenken versuchen. Der zweite Aspekt ist die Relativierung der Wissenschaft, vor allem der Physik.
Anziehungskräfte aber auch optische Gesetzmäßigkeiten sind die bevorzugten Spielfelder des Scheerbartschen Kosmos. Die Biologie, insbesondere die Fortpflanzung und Ernährung, sowie die Physiologie seiner Figuren dienen nur der Verzierung. Hier entstehen für die Außerirdischen keine Zwänge oder Affekte. Dafür erwachsen aus den freiwillig aufgenommenen Tätigkeiten der Bewohner seines Universums gewisse Notwendigkeiten. Neben dem freien Gedankenspiel und der künstlerischen Betätigung ist es vor allem die Beobachtung anderer Welten, die von den Bewohnern betrieben wird und die auch dem Menschen als bevorzugtes Betätigungsfeld dient. Hierbei sind sowohl die Fata Morganas als auch die Teleskope eine nützliche Hilfe bei der Konstruktion seiner Geschichten. Neben der Jupitermond-Novellette wird das Luftspiegelungs-Prinzip auch in der Eros-Novellette verarbeitet. Ein Komet, der etwa alle 30 Jahre in kurzer Distanz an der Erde vorbeikommt, wird von einem Astronomen und der Schiffsbesatzung beobachtet. Bezeichnend ist, dass sich das Schiff nahe dem Südpol festgefroren im Eis befindet. Als die Novelletten erschienen, war dies ein hochaktuelles Thema, denn Scott und Amundsen waren auf dem Weg zum Südpol, um eine der letzten weißen Flecken auf der Weltkugel zu tilgen – dies Motiv hat Scheerbart mit vielen anderen Science Fiction Autoren gemein, die sich, ähnlich wie Scheerbart, mindestens auf wenig bekannte bzw. erforschte Gebiete stützten, höchstens jedoch in den Weltraum verlegten, um ihren Erzählungen den passenden „exotischen“ Rahmen zu verleihen.
Die Besatzung des festgefrorenen Schiffes in der Eros-Novellette kann ebenfalls von den Vorzügen einer Luftspiegelung profitieren und den Kometen aus nächster Nähe betrachten. Dabei stellen sie fest, dass auch die Bewohner des Kometen Fernrohre bauen, um den Weltraum zu studieren. Darüber hinaus wird vom Kapitän des Schiffes und auch vom Astronomen spekuliert, wie weit die Atmosphäre der Erde reicht und ob nicht auch Luftspiegelungen zur Vergrößerung der Mondoberfläche möglich sind. Bei Scheerbart gibt es keinen Platz für exakte Wissenschaften, wohl aber für den kreativen „Ausbau“ herrschender Theorien zu Einzelphänomenen in der Optik oder Gravitation.

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Zuletzt aktualisiert: 22. Mär, 21:06

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