Seit gestern bin ich wieder Teilnehmer eines Seminars an der Universität. Ich besuche dort ein Seminar zur LiteraTour Nord, einem Preis, der von mehreren Universitäten und ein paar Sponsoren ausgelobt, jährlich vergeben und von der Universität schon so lange wie ich dort bin, mit einem Seminar dazu begleitet wird – wahrscheinlich sogar viel länger. Zweimal schon habe ich versucht daran teilzunehmen und musste immer wieder die Segel streichen, wenn es akut wurde, weil sich immer wieder wichtigere Seminare auf dem gleichen Sendeplatz befanden. Überhaupt sind die Sendeplätze ja sehr begrenzt, wie mir immer scheint, denn es ballt sich oft an wenigen Tagen zu wenigen Uhrzeiten ein wahres Feuerwerk an Veranstaltungen, während es zu anderen Zeiten Leerläufe gibt oder nur Seminare zu Grillen kurzlebiger Dozenten. Ich stehe ja auf Grillen, weshalb ich schon öfters an Freitagen morgens um acht ein Seminar besucht habe. Diesmal jedoch erstand ich den Platz in einer Sitzung zur Premiumsendezeit. Warum das so ist, dafür gibt es viele Gründe… aber das gehört nicht wirklich hier her.
Ich saß an der Fensterreihe mit der Sonne im Rücken und sprach zu mir selbst und meinem Sitznachbarn, der mir schräg im Rechteck auf dem nächsten Sitzplatz folgte und den ich zufällig kannte, ob das denn eine so gute Idee sei, mich hier hinzupflanzen. Die Sonne schien nämlich überraschenderweise mit all ihrer Kraft auf meinen Nacken. Da er bereits in der Kehre der Tische saß, streifte ihn die Sonne nur. Ich blieb dennoch sitzen, es waren auch nur noch wenige Plätze frei. Der Raum ist sehr klein für einen Seminarraum und wahrscheinlich zu groß für ein Büro, das zu besetzen nur Neid und Missgunst hervorrufen würde.
Wir besprachen eine Erzählung von Michael Krüger, „Aus dem Leben eines Schriftstellers“, erschienen in dem Erzählband „Der Gott hinter dem Fenster“. Ich fand die Geschichte so gut, dass ich gespannt auf den Rest des Buches war und es mir deshalb eine Woche vorher bestellt hatte. Am Vorabend las ich dann im Theater den ganzen Rest des Buches, inklusive einer zweiten Lektüre dieser Geschichte zur Vertiefung. Mit dieser hatte ich angefangen, weil ich die zwei Geschichten, die davor im Buch abgedruckt waren, bereits am Vorabend des Vorabends gelesen hatte.
Ich lese Erzählbände ungern am Stück, obwohl das bei diesem durchaus möglich gewesen wäre, kaum mehr als 200 Seiten. Ich mache das deshalb nicht, weil es häufig trotz der in sich abgeschlossenen Handlungen einzelner Erzählungen so etwas wie einen roten Faden gibt, oder ein alles überspannendes Thema oder einfach nur interessante Wiederholungen von Phrasen oder Worten, die aufgrund eines anderen Zusammenhangs sogar in zuvor gelesene Erzählungen ein anderes Licht hineinwerfen können. Und wenn ein solcher Erzählband eine stimmige Komposition ist, dann erkennt man das an der Melodie, die das Gelesene hinterlässt. Ich erkenne das Tage und Wochen später. Manchmal weiß ich gar nicht mehr, worum es darin ging, in diesem Buch, was ich vielleicht vor vielen Jahren gelesen habe, aber die Melodie fällt mir sofort ein, wenn ich nur den Titel und den Autor auf dem Buchrücken lese.
Dass Krüger im Verstricken kein Meister ist, war mir schon nach den ersten beiden Geschichten klar, aber es gab trotzdem ein paar Punkte, die mich aufblicken ließen. Stellen, die in minimaler Varianz und Bedeutungsverschiebung Wiedererkennungswert hatten. Die prägnantesten sind natürlich dem roten Faden oder dem übergeordneten Thema zuzuordnen. Es geht in dem gesamten Band um Erzähler: Schriftsteller, Verleger, Lektoren, Übersetzer. Sie alle sind alt, verfügen über einen reichen Erfahrungsschatz und starten ihre Erzählungen, die alle in der Ich-Form geschrieben sind, mit einem Rückblick, der manchmal weit in die eigene Vergangenheit zurückreicht und manchmal nur Minuten zählt. Fokussiert wird einerseits auf Akte des Schreibens oder Facetten, die damit zusammenhängen, und andererseits auf die Menschen und ihre Wirkung auf andere, manchmal aus der Perspektive der eigenen Beobachtung, manchmal auch aus der Perspektive eines Beobachters. Häufig handeln diese Menschen widersprüchlich oder sogar unvernünftig, bleiben unverständlich oder von außen betrachtet beschränkt in ihren Meinungen und Ansichten. Krüger erzählt hier mit dem Blick eines Mannes, der weiß, wovon er schreibt. Ich glaube fast jeder kennt Situationen, in denen einem unverständlich ist, warum von jemanden, der Jahrzehnte älter ist als man selbst, jetzt genau dies getan oder gesagt wurde (Annika hat dazu ein paar Beobachtungen angestellt und aus ihrem Umfeld ein paar Links gesammelt, die in ein paar kleineren Facetten vielleicht tatsächlich mit dem hier Geschriebenen in Zusammenhang stehen. Wer also Lust und Zeit hat, noch mehr zu lesen:
bitte sehr!)
Eine dieser Verstrickungen, die tatsächlich nur eine Phrase darstellt, zweimal explizit genannt und häufig implizit in die jeweiligen Erzählungen verwoben, fand ich sehr interessant. Es ging dabei ums Schreiben bzw. ums Nichtmehrmüssen. Um den Umstand, mit sich und der Welt im Reinen zu sein, einen Beruf zu haben, über den man sich immer noch definiert, der einen fast das ganze Leben über geprägt hat, den auszuführen man plötzlich nicht mehr in der Lage ist, und dann erst merkt, dass man diesen Beruf auch gar nicht mehr braucht. Eine abgeschlossene Emanzipation von sich selbst, sozusagen: „Er wurde ein glücklicher Mensch, ein Schriftsteller, der nicht mehr schreiben musste.“ (S.150), „Ein Schriftsteller, der nicht schreibt, schien mir nun endgültig das höchste Ziel des Schreibens zu sein.“ (S.86).
Wie dem auch sei, Krügers Buch hat eine Melodie, eine, die fast jeden einmal erfasst. In der Erzählung, die wir im Seminar behandelten, wurde das deutlich, wenngleich nur wenige das gesamte Buch gelesen hatten. Dazu sage ich nur kurz etwas: Lesegewohnheiten von anderen gehen mich nichts an und die wenigsten befinden sich in so komfortabler Situation, mit einem oder zwei Seminaren ein Semester bestreiten zu können. Ich finde es allerdings schwer, anhand einer Erzählung, Qualität zu bemessen. Dass mir aber diese eine Konstruktion innerhalb der Erzählung nicht aufgefallen, die noch dazu irgendwie unstimmig ist, von meinem Nachbarn als misslungen bezeichnet, weil sie im Fortlauf der Erzählung einen Bruch evozierte, den, weiß man davon, zu übersehen man gar nicht mehr in der Lage ist, machte mich rat- und stimmlos. Ich war am Ende nicht einmal in der Lage, den Raum zu verlassen, weil sich direkt vor der Tür ein Haufen gebildet hatte, der irgendetwas zu verhandeln hatte, von dem ich nichts mitbekam. Eingekeilt zwischen Leuten stand ich da, es ging nicht vor, nicht zurück. Irgendwann fand ich meine Sprache wieder und verschaffte mir damit Platz, den Raum zu verlassen.