Klassenraum
Das Überschlagen der Buchstabenmenge des deutschen Alphabets war für einen meiner Schüler nicht von durchlagendem Erfolg. Er unterschlug zwei Buchstaben. Mein Vorschlag: der erste und der letzte Buchstabe seines Vornamens werden getilgt, jetzt trägt er einen Mädchennamen.
Ich hatte doch heute am Tag der Zeugnisausgabe tatsächlich noch eine richtige Unterrichtsstunde, insofern man von Unterricht sprechen kann, der am Tag vor den Sommerferien überhaupt noch funktioniert. Die Kinder wollten Prominenteraten spielen. Dabei sitzen vier Leute vorn mit dem Rücken zur Tafel, während hinter ihnen an der Tafel ihr Name und ihre neue Persönlichkeit steht. Diese haben die Kinder zuvor selbst ausgehandelt, während die Ratenden im Flur warten mussten. Als alle soweit sind, werden von einem der Ratenden solange Ja/Nein-Fragen gestellt bis eine Frage mit Nein beantwortet wird. Dann ist der/die nächste an der Reihe.
13 Jahre alt sind die Kinder. Ich kenne niemanden mehr. Achso, das ist ein Youtuber, und wer ist das? Eine Comicfigur? Nein, ein Rapper. Um den Schein zu wahren, schlage ich vor, statt mit irgendwelchen Promis doch lieber mit historischen Figuren zu spielen. Also gut, eine Runde mal zur Probe. Wir haben drei Jungs ein Mädchen. Die einzige weibliche historische Figur, die sie kennen, ist Kleopatra. Die drei Jungs müssen Ludwig XIV., Napoleon (beides Stoff des letzten Halbjahres) und Alexander der Große sein. Hitler habe ich abgelehnt.
Die Runde beginnt mit Alexander dem Großen, der erst einmal fragt, ob er denn männlich ist. Ja. Ob er in Frankreich gelebt hat, nein. Das einzige Mädchen in der Viererrunde fragt, ob sie weiblich ist. Ja. Dann ist sie ja wohl Kleopatra. Ja. Der nächste Junge fragt nach seinem Geschlecht und ob er einst in Frankreich lebte. Ja, ja. Bin ich Ludwig XIV.? Ja. DasGleiche noch einmal bis auf die letzte Frage, die lautete: Bin ich Napoleon? Ja.
Alexander Große bleibt übrig und fragt sich durch die halbe Welt, bis er endlich weiß, dass er irgendwie mit Griechenland zu tun hat. Ich weiß nicht mehr wie er heißt, irgendwas mit "der Große", tut mir leid, ich kann das nicht raten. Ich habe den Namen vergessen, "Karl der Große" vielleicht? Nein? Die anderen geben ganz viele Tipps, bis ihnen die Tipps ausgehen und da vorn ein noch immer ratloser Alexander der Große mit teilweisem Gedächtnisverlust um seine Person.
Ich löse auf und lasse die Kinder wieder ihre Promis raten.
Die Kultur ist nicht mehr als ein Schnipsel, ein Wurmfortsatz, den man sich anzuhängen angewöhnt hat, wenn es darum geht, sich von anderen abzusetzen. Schauen Sie sich die Kaffeewerbung im Fernsehen an, wo futuristisch designte Maschinen aus Pads oder Kapseln Geschmack generieren, den kein Mensch jemals zuvor dort hinein gepresst haben kann.
Und dann höre ich einem Gespräch unter Referendaren zu, die einen großen Unterrichtsbesuch (genannt GUB) planen, wie sie davon sprechen, noch bevor die Stunde überhaupt läuft, einen Kaffee aufzusetzen und diesen warmzuhalten, damit nach der Unterrichtsstunde alle einen Kaffee trinken können zur Nachbesprechung.
Wir reden hier nicht von irgendwelchen Leuten. Wir reden hier von angehenden Lehrern, die mit was-weiß-ich-wieviel Gehalt ausgestattet werden und während des Studiums womöglich einen Barista-Lehrgang besucht haben, um ihrem Arbeitgeber gerecht zu werden – der Kneipe nebenan. Wir reden hier von Leuten, die den Geschmack für sich gepachtet haben!
Die trinken Filterkaffee aus Warmhaltebehältern! In jedem Lehrerzimmer steht so ein unseliger Automat. Oder es steht dort eine von diesen neumodischen Kaffeepadmaschinen, die einem vorgaukeln, dass Kaffee genauso schlecht schmeckt, wie ein aus einem Teebeutel produzierter Tee. Das sind Leute, die noch vor wenigen Monaten auf handerlesene Mischungen aus dem Bio-Fairtrade-Szene-Laden um die Ecke geschworen haben. Die trinken jetzt abgestandenen Filterkaffee aus der Thermoskanne.
Ich werde das Zeug auch trinken, aber ich habe mich vorher wenigstens darüber gewundert.
Sehr geehrte Ausbildungsberechtigte,
wiederholt ist es nun schon vorgekommen, dass der Referendar xy vergaß, den Schülern seiner Klasse eine Hausaufgabe aufzugeben. Hinzu kommt, dass bei Erteilung einer Hausaufgabe bislang immer versäumt wurde, diese im Klassenbuch zu vermerken. Am unerträglichsten jedoch empfinden wir es, wenn gestellte Hausaufgaben in der darauf folgenden Stunde nicht kontrolliert werden, so dass bei den Schülern der Eindruck entstehen muss, das Erledigen von Hausaufgaben wäre nicht so wichtig. Das ist absolut inakzeptabel.
Sollte sich an diesen Umständen keine Besserung ergeben, sehen wir uns gezwungen, Disziplinierungsmaßnahmen wie zum Beispiel einwöchiger Kreideentzug in Betracht zu ziehen.
Mit freundlichen Grüßen
Die Eltern
Ich bin noch da und zögere mit dem
Eichendorff-Gedicht. Ich trau mich nicht. Ich bin ja nicht mehr in der fünften Klasse oder in der zwölften, in der so etwas noch verzeihlich gewesen wäre. Heute habe ich mich nämlich informiert, was meine 5. Klasse in Deutsch bei einer Vertretungslehrerin gemacht hatte. Sie hatten ein Gedicht verschlimmbessert. Den Vorschlag des Gedichts tat ich noch selbst einbringen, dann musste ich los ins Seminar und ließ die Vertretung auf die Schüler los. Nein, ich ließ die Schüler auf die Vertretung los.
Den Schülern war freigestellt worden, ob sie „Dunkel war’s, der Mond schien helle“ einfach nur verbessern, also die Oxymora auflösen, oder ob sie lieber ein eigenes Gedicht in dieses Korsett zwängen wollen. Ein fäkales Highlight war sicher, dass die Personen nicht in Autos oder auf Bänken saßen, sondern immer auf dem Klo. Der Hase ritt auf einer Kackwurst und statt der Stulle hielt die Schrulle eine Pistole in Händen, die mit Urin gesprenkelt war. Aber ich habe das ja nicht anders gewollt. Ich habe gefragt, was die Schüler in der letzten Stunde so gemacht hatten. Die Schüler haben mir geantwortet.
Mein Gedicht jedenfalls braucht noch ein Weilchen. Vielleicht braucht es noch so eine fäkale Materialschlacht wie heute in der 6. Stunde einer 5. Klasse.