Gedankeninseln
  
  
  
  In Vorbereitung auf das heutige Seminar ist mir ein Gedanke untergekommen, der mich sehr beschäftigt. Es ist nicht nur ein Gedanke, sondern eine schlichte Tatsache, dass ich Literatur, die von Frauen geschrieben wird, nicht lese. Das hat mich einigermaßen bestürzt. Ein Sturz im 
Treppenhaus wäre schlimmer, aber immerhin. 
Nun könnte ich es mir natürlich einfach machen und einfach nur noch Autorinnen lesen. Das wäre dann ungefähr so, als würde jede neue Straße in Berlin nach einer Frau benannt. Dann könnte ich mir in naher Zukunft – denn ich lese außerordentlich viel – auf die Schulter klopfen und sagen, ich hätte der Gerechtigkeit Genüge getan. 
Aber so einfach ist das nicht. Ich lese ja nicht irgendwas. Ich lese Bücher, auf Empfehlung oder durch Eigenrecherche. Die meisten meiner Treffer mache ich selbst, indem ich die Antiquare meines Vertrauens aufsuche und dort Bücher herausziehe, die mich ansprechen, sei es nun die Umschlaggestaltung, der Klappentext oder der erste Satz. Schon dabei kommen mir selten Frauen unter. 
Die letzte Frau, von der ich ein Buch gelesen habe, war Sara Paretzky mit „Blood Shot“. Eine im Piper-Verlag erschienene Krimireihe um die Detektivin Vic Warshawski. Das war kein Zufallsfund, sondern eine gezielte Aktion, die ihren Ursprung in der Beschäftigung mit Kriminalliteratur als Themenfeld einer Masterarbeit hatte. Thomas Wörtche verdanke ich den Tipp. Überhaupt hat Wörtche ein paar gute Tipps auf Lager. Patricia Highsmith  wird über kurz oder lang wohl auch noch gelesen. Ich habe natürlich auch den ein oder anderen Schwedenkrimi weggeknackt, also die echten: Wahlöö und Sjöwall, Agatha Christie in jungen Jahren, ein Krimi von Sylvie Granotier aus der Pulp-Reihe, ich las sogar einmal einen Roman von Anne Perry, „Eine geschlossene Gesellschaft“, allerdings nicht bis zum Ende, weil unerträglich.
Und mit dem Seminar, auf das ich mich vorbereitet habe, las ich zwei weitere Frauen: Alina Bronsky und Judith Kuckart. Das war aber nicht, weil mir die Bücher empfohlen worden sind oder ich sie mir selbst ausgesucht habe, sondern weil sie für das Seminar Pflichtlektüre darstellen. Ist auch irgendwie eine Empfehlung, wenn auch nicht ganz so frei, wie es mir sonst passiert. 
Tja, und jetzt fällt mir nicht ein, wie ich den Eintrag hier beenden soll. Das ist auch irgendwie bestürzend.
 
  
  
  
  
 
  
  
  
  Am Fuß der Limmerstraße, also wenn man die Fußgängerzone der Limmer als Bein betrachtet, liegt ein Platz. Der Küchengartenplatz. Von diesem Platz gehen vier Zehen ab und in einem dieser Zehen wohne ich. Ich gehe oft über den Platz, weil fast jeder Weg daran vorbeiführt. Jeden Tag bin ich mindestens einmal darauf unterwegs. Deshalb registriere ich jede kleine Veränderung, die sich dort anschleicht. Ich habe zum Beispiel mitbekommen, dass die Skater, die den Platz regelmäßig frequentieren, um dort ihre kleinen Tricks zu üben, weniger geworden sind. Auch die Trinker auf den Bänken gegenüber des hippen Hipsterlädchens mit seiner überschätzten Küche und dem oft pampigen Personal sind ruhiger geworden. Es wird ruhiger mit jedem Grad weniger.
Das bringt mich zu meinem zweiten hinkenden Vergleich. Merken Sie es? Vergleich, hinkend, Bein und Fuß? Es gibt da so etwas wie eine Anomalie, die sich hier in den letzten Tagen manifestiert hat und die sich ähnlich verhält wie die Anomalie des Wassers. Natürlich ist auch die Bewegung des Wassers bei sinkenden Temperaturen nur noch eine schleppende aber betrachtet man das Problem einmal nicht aus der Bewegungs-, sondern aus der Dichteperspektive, müsste sich ab einer bestimmten Gradzahl eine gewisse Veränderung feststellen lassen. Und jetzt ist es soweit. Die Dichte hat ihren höchsten Punkt erreicht. 
Bewegung ist kaum noch drin aber in der Menge der Teilchen ist die derzeitige Situation, insbesondere zu den abendlichen Temperaturen von ca. 3-4° Celsius, eine so hohe, dass es mir eben aufgefallen ist. Da stehen Dutzende Leute in Gruppen auf dem Platz und tummeln sich auf der Limmer, als wäre gerade ein Volksfest zu Ende gegangen und gleichzeitig der öffentliche Nahverkehr vollständig zum Erliegen gekommen. Die Leute gehen nämlich nicht weg, höchstens zum Kiosk oder in den Rewe an der Ecke, um noch ein Bier zu kaufen.
Was machen die ganzen Leute da? Wo kommen sie her? Wo sie hin wollen scheint klar zu sein, sie wollen nicht weg. Sie wollen hier bleiben. Im Kalten. Im Fuß der Limmerstraße sammelt sich das Wasser aus Menschen, das nicht fort will. Da nimmt keiner die Füße hoch oder bewegt sich. Wo kommen sie also her und was machen die da? Die kommen aus den Fakultäten der hiesigen Uni und bekommen hier zum Start des neuen Semesters ihre erste außeruniversitäre Einführung in Sachen Trinkgelage in Fußgängerzonen. Vielleicht gibt es dafür Credit Points. Wundern würde mich das nicht. Mich wundert hier gar nichts mehr.
  
  
  
  
 
  
  
  
  Nicht einmal das Wort hatte ich behalten, denn mein Notizbuch schlummerte während der Autofahrt in meiner Jackentasche. Das Radio lief und in fast jeder Sendung gab es einen Beitrag zur Verklanglichung des Klimawandels im Foyer des Deutschlandradio Kultur. Ich hörte Ausschnitte, Interviews, Pressestimmen, Wissenschaftler. Heute ist es mir wieder eingefallen.
Es kam so plötzlich, dass ich nicht einmal mehr sagen kann, was zuerst da gewesen ist in diesem Moment. Der Begriff, den ich vergessen hatte aufzuschreiben oder das Geräusch, das ich nicht zuordnen konnte. Ich stand am Beginn der Straße zu mir nach Hause, es war spät in der Nacht und ich musste, wie schon öfter dieser Tage, immer wieder über den Kommentar dieses einen Wissenschaftlers nachdenken. Der sagte nämlich, dass die besten Geräusche, um etwas zu verklanglichen, nicht die Originale wären, sondern Kopien. Indem diese Geräusche so gut es ging nachgeahmt würden, vermittelten sie den Eindruck des Authentischen viel besser als das Original.
Der Wissenschaftler erklärte das am Beispiel vom Wind. Er sagte, dass es zwar sehr eindringlich wäre, sich an eine zugige Stelle zu postieren, aber dass Wind viel besser mit technischen Hilfsmitteln nachgemacht werden könne, die zwar auch mit Luft funktionieren aber eben kein natürlicher Wind seien. Niemand würde sich irgendwo hin stellen und auf einem Gerät den Wind aufzeichnen, alle würden ins Studio gehen und mit Hilfsmitteln ein viel besseres Geräusch erzeugen, als das aus der Natur, das obendrein auch noch jeder viel eher mit Wind assoziiere als die echte Aufnahme. In der Sonifikation ist die Kopie das Original, nur eben noch besser. Und so funktioniere das auch bei diesem interaktiven Klangobjekt. 
Warum ich den Artikel nun doch noch einmal nachgeschlagen habe, erklärt sich aus diesen Gedanken und meiner eben erlebten Situation. Ich stand dort am Fuß der Straße, es war kalt, bewölkt und dunkel. Ich hörte ein Geräusch, das so klang, als würden hoch oben in der Luft ein paar Gänse in Richtung Süden unterwegs sein. Warum auch nicht. Es ist Herbst, es wird immer kälter irgendwann müssen die Vögel ja mal in den Süden aufbrechen. Das hörte sich ziemlich vernünftig an. Bis mich das quietschende Fahrrad überholte, das klang genauso.
 
  
  
  
  
 
  
  
  
  Neulich im Vogelfrei mit den üblichen Verdächtigen. Trithemius erzählt mir von seinem tollen neuen 
Blogprojekt und wie sich die Texte plötzlich fast von alleine schreiben. Ich denke dabei an einen Text, den ich seit langem schreiben wollte, aber nur im Kopf fertig habe. Ich schreibe mir seine neue Adresse in mein Notizbuch und denke nicht daran, den eigenen Text dort mindestens zu skizzieren. Jetzt ist der Text weg. Ich habe schon alles versucht: träumen, nachdenken, starr geradeaus gucken. Ich kann den Text nicht mehr finden. 
Mein Kopf scheint ein Loch zu haben an einer Stelle, die für mich nicht sichtbar ist. Ich habe ja eine lichte Stelle am Hinterkopf, die mir betrüblicherweise viel zu oft ins Gesichtsfeld rutscht, und das, obwohl sie dort sitzt, wo meine Augen nicht hin reichen. Dafür muss ich nur ein Bier im Kiosk meines Vertrauens erwerben und schon kann ich meine lichte Stelle auf dem Monitor über der Tür betrachten. Vielleicht sitzt dort ja noch ein richtiges Loch unter der verbliebenen Haarpracht verborgen.
Heute rief ich den Friseur meines Vertrauens an, typischerweise natürlich viel zu spät, um für diese Woche noch einen Termin zu bekommen. Am Wochenende ist eines dieser Klassentreffen, zu denen ich mich sonst nie geselle, weil mir die Leute aus meiner Schulzeit schrecklich langweilig vorkamen. Die wenigen, die ich noch kenne, schließe ich da natürlich nicht mit ein. Dieses Klassentreffen aber ist etwas anderer Natur, denn es treffen sich nicht die Abschluss-, sondern die Einschulungsklassen eines Jahrgangs. Von denen könnte ich nicht sagen, ob ich sie heute langweilig finde, weil ich sie schon so lange nicht mehr gesehen habe. Die wenigen, die ich noch kenne, schließe ich da natürlich nicht mit ein. 
Eigentlich lege ich keinen gesteigerten Wert auf meine Frisur, dieser außergewöhnliche Termin ließ mich jedoch darüber nachdenken. Ich trage gerade eine Hose mit Loch, weil es die am bequemsten sitzende ist. Mein T-Shirt hat ein winziges Loch auf Höhe meiner Gürtelschnalle, die ich seit langem in Verdacht habe, meine T-Shirts zu durchlöchern. Ich habe nämlich mehrere T-Shirts, die an der gleichen Stelle beschädigt sind. Überhaupt ist mein Gürtel ein staunenswertes Gerät. Es hält meine Hosen fest,  wird mit der Zeit immer länger, so dass ich ihn enger schnallen muss, obwohl ich zugenommen habe. Ich rufe nochmal an, sagte ich zu meinem Friseur.
 
  
  
  
  
 
  
  
  
  Ich ging über den Parkplatz eines Baumarktes und trug meine gekauften Sachen gerade zum Auto, als mir plötzlich auffiel, wie korrekt ich doch geparkt hatte. Es entstand ein Dialog in meinem Kopf, bei dem ich einen Preis gewonnen hätte, den mir zwei herbeigelaufene Parkplatzwächter überreichen wollten. Sie stellten mir allerhand Fragen. Ob denn die Plätze rechts und links von mir bereits beim Einparken leer gewesen seien. Ich bejahte. Ob ich das aus Gewohnheit machte oder ob das Zufall war, solche Sachen eben. 
Sie lobten mein überaus korrektes Verhalten, müssten mich aber rügen, weil ich auf dem Weg zum Auto einen Trampelpfad über die Rabatten benutzt hätte, anstatt den korrekten Weg zu nehmen. Sie diskutierten jetzt untereinander, ob sie mir den Preis überhaupt aushändigen dürften, während ich die wenigen Sachen in mein Auto lud. Ich dachte an einen Einkaufsgutschein, einen Blumenstrauß oder wenigstens eine Plakette, die ich mir neben meinen Unbedenklichkeitsaufkleber zur Schadstoffemission kleben könnte. Das war eine schwarze Vier auf grünem Grund. Ich wurde unangenehm an mein Abiturzeugnis erinnert. Ich stieg ein und startete den Motor. Kein Preis. Tja.
  
  
  
  
 
  
  
  
  Vorgestern war Sommeranfang. Der längste Tag des Jahres nahm sich aus wie ein schöner Februarmorgen und ich bin stolzer Besitzer einer Erkältung wegen Tragens unpassender Kleidung. Zwanzigfünfzehn, das Jahr, das wie ein Versprechen auf spannende Abendunterhaltung klingt, enttäuscht wieder einmal mit einem schlechten Tatort. Der Sommer ist wie die Sonntagabendunterhaltung: alle reden drüber aber stattfinden tut sie nicht.
  
  
  
  
 
  
  
  
  Im Netz scheint es nicht der Text zu sein, der darüber entscheidet, ob etwas gut ist, sondern der Link, der im Text enthalten ist. Nur er lässt den Leser entweder tief eintauchen oder an der Oberfläche verharren. Als notorischer Klickbruder, bin ich an jedem Link interessiert und muss leider viel zu oft feststellen, dass der gesetzte Link nicht funktioniert, nicht weiterleitet.
Unterstrichene Verheißung mit Frustpotential nenne ich sowas. Das kommt auf den besten Seiten vor, in den besten Texten finden sich Sackgassen. Heute war ich auf einer Seite, die es in der gesamten Kategorie auf gerade einmal drei funktionierende Links brachte. Es handelte sich dabei gar nicht um einen Text im herkömmlichen Sinne, sondern um eine Linksammlung, eine schlichte Liste, die auf Texte oder Quellen verweisen sollte, die nicht mehr vorhanden waren. Wenn ich nicht wenigstens ein Drittel der Texte bereits gekannt hätte ich daran verzweifeln können. 
An anderer Stelle las ich tatsächlich einen Text, einen wirklichen, gehaltvollen. Auch er enthielt Links. Nach drei erfolglosen Weiterleitungsversuchen, machte ich mir die Mühe, jeden einzelnen Link anzuklicken, nur um festzustellen, dass sie allesamt tot waren.
  
  
  
  
 
  
  
  
  Wir haben jetzt zwei Wochen hintereinander ausprobiert, wie es ist, sich abends auf der Limmer für ein Bier zu treffen. Es war in jeder Woche jeweils der falsche Tag dafür. Ich schließe daraus, dass meine innere Uhr auch keinen Sommer macht. 
Ein weiterer Schluss ergab sich aus meiner kaputten Jacke, die ich beim ersten Treffen trug und nicht zuziehen konnte, weil der Reißverschluss kaputt war. Gestern, beim zweiten Treffen, hatte ich nämlich die Jacke längst gegen eine neue ausgetauscht und fror trotzdem. Die Jacke sieht zwar gut aus aber sie hält einfach nicht warm.
Von der Bank aus, wo wir letzte Woche saßen, konnten wir die Reste eines Ladengeschäfts begutachten. Das Geschäft war einfach eine Ecke weiter gezogen und spart sich nun wahrscheinlich die Hälfte der Miete, weil dieser Bereich der Limmer keine Fußgängerzone mehr ist. Herr Putzig würde dies mit einer 1b-Lage kommentieren und hätte wahrscheinlich Recht, es ist ihm nur nicht aufgefallen, nein, er war noch nicht da, als ich mit 
Trithemius darüber sprach. 
Von dem Umzugsplakat habe ich ein Foto gemacht, weil es so passend das Leben auf der Limmer wiederspiegelt. Lauter Gelbköpfe rennen in die neue Postfiliale oder kommen aus ihr heraus, um sich vom reichhaltigen Angebot berauschen zu lassen. Das führt scheinbar häufig zu allgemeiner Kopflosigkeit, um die sich die ehemalige Postfiliale natürlich Sorgen gemacht hat. Deshalb haben die Leute von der Post den Leuten vor der Post einen gelben Punkt auf die Schultern geklebt, um ihnen wenigstens halbwegs die Würde einer menschlichen Gestalt wieder zu geben.
 Gestern unterhielten wir
Gestern unterhielten wir uns dann kurz über die Apotheke von gegenüber, die ebenfalls umgezogen ist. Die Apotheker zog es genau einen Hauseingang weiter nach links in ein Geschäft, das schon so lange leer stand, dass der Mietpreis wahrscheinlich einer 1b-Lage entspricht, obwohl es 1a-Lage ist. In der alten Apotheke ist auch schon wieder jemand am renovieren, die Fenster sind mit schwarzen Planen zugedeckt und auf einem Plakat in der Tür wird darauf hingewiesen, dass die Pakete für die Apotheke jetzt nebenan abzugeben seien. Diesen Hinweis hat sich die ehemalige Postfiliale übrigens erspart, die Post hat wohl kein Herz für Zusteller.
 
  
  
  
  
 
  
  
  
  Gestern Abend stand ich für geraume Zeit an einer Supermarktkasse hinter einem dicken Mann. Dieser hatte seine Waren aufs Band gelegt, guckte zu mir hinüber und überlegte; vielleicht überlegte er, mich vorzulassen, weil ich nur einen Artikel hatte, entschied sich dann aber anders und sortierte seine Sachen wieder um, akkurat am Band ausgerichtet bis auf die beiden Schnittbrote am Ende. Vielleicht drehte er sich aber auch zu mir um, weil ich leise vor mich hin summte, ich hatte nämlich, wie so oft, einen Ohrwurm, den er vielleicht trotz seiner Ohrstöpsel in einer Liedpause mitbekommen hatte. 
Ich habe ständig Ohrwürmer und kann sie nur so lange behalten, bis ich einen neuen habe. Was ich gestern für einen Ohrwurm hatte, weiß ich gar nicht mehr, denn heute Morgen bin ich aufgewacht und summte die ganze Zeit die Melodie von „Das ganze Leben ist ein Quiz“ von Hape Kerkeling. 
Neulich las ich „Kühn hat zu tun“ von Jan Weiler, dessen Kommissar ja auch ständig einen Ohrwurm hat und sich nicht daran erinnern kann, woher dieser kommt. Dem Leser des Romans kommt das nicht so spanisch vor, wenngleich die vollständige Erklärung erst am Ende des Buches kommt. Assoziationen, Erinnerungsfetzen aus den großen kursiven Passagen deuten in dem Buch auf die Herkunft dieser Ohrwürmer hin. 
Es gibt ja Bücher, in denen habe ich die kursiven Passagen  manchmal nicht zu Ende gelesen, sondern einfach überblättert. Spontan fällt mir da „Der Turm“ von Uwe Tellkamp ein, da waren diese Stücke manchmal doch ein wenig zu arg verschroben. Ich dachte auch, dass Huxley in „Kontrapunkt des Lebens“ solche Passagen hätte, aber ich habe sie auf die Schnelle nicht gefunden, dafür aber jede Menge Anstreichungen. Eine davon lautete: „Gottesdurstig kamen die Männer aus den spirituellen Wüsten der Werkstatt und des Büros zum Tempel der Spirituosen.“ Das brachte mich zum Schmunzeln.
Ich hatte gestern Abend nämlich lediglich eine Flasche Wein auf das Laufband gelegt, die dann, eingekeilt von zwei Warentrennern, vor sich hin rollte. Ich schmunzelte auch (was für ein herrliches Wort: schmunzeln!) über den Mann an der Kasse vor mir, der seine Waren neu sortierte und dabei die Schnittbrotpackungen vergaß und nicht an der Kante ausrichtete. In Gedanken schob ich die Packungen zurecht und nickte ihm dann aufmunternd zu, als er sich deshalb zu mir herum drehte. In Wirklichkeit schmunzelte ich nur, das hörte er diesmal nicht.
  
  
  
  
 
  
  
  
  Ich war auf einem Diskussionspodium zu Charlie Hebdo. Kein Selbstmordkommando, denn die Gäste waren handverlesen und die Werbung dafür minimalistisch, ich musste mir also keine Sorgen machen. Ganz hinten zu sitzen, hat den Vorteil, nicht alle Redner von Angesicht zu sehen, und den Nachteil, nicht alle Redner von Angesicht zu sehen. Mir eröffnete das vor allem eine Perspektive von Gleichmut, nachdem ich festgestellt hatte, dass selbst ein harsches Einschwenken nur einen Teilerfolg bringt. Ich fand mich damit ab und lauschte den Worten.
Der Eingangsvortrag, erfrischend kurz und provokant, stellte sogleich ein paar Thesen auf, nämlich, dass es sich tatsächlich um Islam handelt, wenn Islam draufsteht. Im philosophischen Sinne ist das keine Neuentdeckung, die Feststellung aber für so manch Zeitgenossen sehr unbequem, Beispiele gab es zu Hauf. Die Huntingtonsche Dimensionalität aufnehmend argumentierte der Redner, ein Politikwissenschaftler, in Richtung „Westen“ und hinterließ bei mir nicht selten den Eindruck, auf einer Pegida-Kundgebung zu sein, die Absicht war natürlich zu offensichtlich. Den danach folgenden Diskussionsteilnehmern schien dieser Zusammenhang gänzlich verloren gegangen zu sein. Meistens konnte sich das Anfangsargument durchaus hören lassen, die Argumentation jedoch verfiel in Strickmuster, wie sie allseits bekannt sind: Radikalisierung von „Verwirrten, die den Islam als Projektionsfläche für zumeist männliche Gewalt- und Machtphantasien sehen. Da ist schon interpretiert worden, bevor die Frage -  es ging nämlich eigentlich darum, warum sich jemand in Deutschland radikalisiert – überhaupt gestellt worden war.
Der grüne Bundestagsabgeordnete präsentierte sich höflich aber festgefahren. Der SPD-Mann dagegen war eher ratlos und gab dies sogar offen zu. Die „Halb-Iranerin“ warf dem Politologen Einseitigkeit vor und der Moderator verwies einmal mehr auf die Vielschichtigkeit der islamischen Gesellschaft, indem er den Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten breittrat. Herausgekommen ist nichts von Belang, also braver Applaus und zustimmendes Nicken. Verlorene Zeit, wenn da nicht dieser Begriff wäre, der sich in mir formte, nachdem wir uns später zusammensetzten, um darüber zu reden. Ein simpler Versprecher eigentlich, über den ich jetzt erstmal nachdenken muss, bevor ich ihn mitteile. Bis dahin.
Gute Nacht