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NeonWilderness - 15. Mär, 23:12

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Aus zweiter Hand: Günther Grass in Hannover

Als ich am Morgen des 03.11.2014 meine Jacke vom Haken nahm, entdeckte ich, wie sich ein darunter befindlicher Regenschirm in der Aufhängelasche meiner Jacke verheddert hatte. Ich musste den Regenschirm, der einen gebogenen Griff besitzt, aus der Lasche herauswinden, weil ich sonst mit einem Regenschirm im Rücken aus dem Haus gegangen wäre. Um ehrlich zu sein, der Regenschirm begleitete mich trotzdem eine geraume Zeit, in Gedanken. Ich stellte mir vor, wie ich über den Küchengartenplatz laufe, ein Geldstück am Boden sehe und mich danach zu bücken versuche und plötzlich den Schirm in meinem Rücken bemerke. Der Platz ist mäßig belebt. Zöge ich meine Jacke aus und würde den Regenschirm, der einen gebogenen Griff besitzt, aus der Lasche entwirren, zöge dies unweigerlich Blicke auf sich. Man könnte mich für einen Spontanperformancekünstler halten und Beifall klatschen oder auf die Stirn, die eigene und den Kopf schütteln.

Ich gehe weiter zur Haltestelle, wo noch mehr Leute darauf warten, dass der Bus, die Straßenbahn oder ein Taxi vorbeikommt oder darauf, wie ich einen Regenschirm aus meiner Jacke fische und „hehe, den habe ich doch glatt nicht bemerkt,“ sage. Ich warte auf die Gelegenheit in der Straßenbahn oder danach oder bis ich wieder zu Hause bin, weil es mir furchtbar peinlich ist und mit jeder Minute, die verstreicht, wird es peinlicher. Am Abend könnte mich meine Frau fragen, weshalb ich denn den Regenschirm mit mir herumgeschleppt hätte, obwohl doch herrliches Wetter war; das wäre noch die geringste aller peinlichen Fragen, sollte sie mich nicht dabei erwischen, wie ich einen gebogenen Regenschirmgriff durch die Aufhängelasche meiner Jacke fädele, die ich gerade ausgezogen hatte, um sie an den Haken zu hängen.

Gestern, also am Montag dem 03.11.2014, war Günther Grass in der Stadt. Er traf sich mit Oskar Negt zum Plausch im Audimax, einem schlecht belüfteten Vorlesungssaal der Leibniz Universität Hannover, der gerammelt voll, eine halbe Stunde vor Beginn bereits völlig ausverkauft war. Es muss noch schlimmer gewesen sein als die Antrittsvorlesung zur allgemeinen Psychologie, wo nur etwas weniger Teilnehmer als an diesem Abend zu erwarten sind und die man danach meistens nie wieder sieht, wenn der oder die Dozentin verkünden, dass es keine Anwesenheitsliste geben wird. Wir kamen nicht mehr rein. Wir kamen so spät, dass wir sogar die Gegendemonstranten verpassten, die es gegeben haben soll. Die Flyer der Gegendemonstranten lagen auch nicht mehr aus, dafür aber jede Menge weiße Taschenbücher von Grass und einem roten Hardcover von Negt; gestapelt zu ordentlichen Stapeln mit einer gelangweilt drein blickenden Frau hinter dem Verkaufstisch, uns nicht eines Blickes würdigend. Aber wer waren wir schon: brachten unser eigenes Bier mit, pöbelten herum und machten Witze auf Kosten eines größeren Kreises – wir vermuteten ja, dass es sich dabei um den Freundeskreis von Grass, mindestens jedoch um den Freundeskreis des Literarischen Salons handeln könnte, die beitragszahlend das ganze Jahr zu den Veranstaltungen gehen, bei Grass und Negt aber lieber im Foyer sitzenblieben, um einen tüchtigen Rausch sich anzutrinken an der eigens für diese Veranstaltung errichteten Bar, die wir geflissentlich ignorierten, weil wir ja über genügend Bier vom Kiosk verfügten.

Wie ich von der HAZ und der NP erfuhr ging es um einiges an dem Abend, die interessanten Sachen, wurden nur kurz in einer Klammer erwähnt, die NP erwähnte sie gar nicht. Es ging um Israel, die SPD und vielleicht auch um Granufink, ich weiß es nicht. Es ging auch um die unpolitischen Studenten (das entnahm ich der Klammer der HAZ). Apropos unpolitische Studenten: wie mir ein Besucher, der dem Grass fast in den Ausschnitt gucken konnte, erzählte, gab es einen Gegendemonstranten, der dem Grass einen seiner Flyer auf den Tische legte, woraufhin dieser sich mit Herablassung (HAZ) bei diesem bedankte. Vielleicht wäre die Studentenschaft in Grass Augen ja politischer, wenn sie ihm eine faule Tomate aufs Revers geschmissen hätte. Vielleicht wäre die Jugend ja politischer, wenn ihr nicht reihenweise die moralischen Instanzen wegbrächen, indem sie mit oder ohne Kalkül in einem Nebensatz erwähnten, dass sie in der SS gedient, Doping genommen hätten oder Kinderpornos herunterladen oder ihre Doktorarbeit plagiierten oder was auch immer sich gerade irgendwo in der Zeitung lesen lässt und den „unpolitischen“ Studenten 2014 nicht mehr auf die Palme bringt.

Neulich, es war an Halloween, bewarfen ein paar pubertäre Schulkinder meinen Bruder, der gerade zu Besuch bei mir war, mit einem Ei. Ich stellte die Jungs eine halbe Stunde später und schüttete dem einen von ihnen sein Essen, das er sich gerade gekauft hatte, über die Hose und fand das nicht unverhältnismäßig. Wenig später las ich, dass es an Halloween regelmäßig zu Eierwürfen kommt, weil der Brauch (Unsitte?), Eier an Fenster und Türen zu werfen, häufig überstrapaziert würde und eben auch Menschen nicht davon verschont blieben. Ich staunte nicht schlecht darüber, was mir das Internet da präsentierte, wenn man nur schlau genug danach fragt. Ob Herr Grass überhaupt weiß, wo sich die „unpolitischen“ Studenten so rumtreiben? Kennt er vielleicht welche persönlich? Was ist das überhaupt für eine bescheuerte Feststellung, die Studenten von 2014 seien unpolitisch?

Die Gegendemonstranten gaben ihren Aktionen eine schöne, markige Überschrift: „Halt die Fresse, alter Mann!“. Ich würde es nicht ganz so drastisch formulieren aber mehr ist er ja leider nicht, alt. Keine moralische Instanz mehr, Gedichttitel, die sich wie Stammtischparolen lesen, und dann auch noch sein Auftritt mit Oskar Negt im Audimax der Leibniz Universität, eine Veranstaltung des Literarischen Salons, verglichen mit einer Fernsehsendung oder einem Auftritt auf einer Buchmesse doch höchstens Baumarktniveau. So tingelt also der Grass durch die Kulturstätten wie einst Zlatko Trpkovski durch die Supermarktketten.

Tja, eigentlich wollte ich ja etwas zur Verteidigung gerade dieses einen Fehlers finden, den Herr Grass begangen hatte. Nur deshalb schrieb ich ja mein Erlebnis mit dem Regenschirm nieder. Herr Putzig, der übrigens auch mit von der Partie war, warf mir in diesem Zusammenhang ja wieder einmal vor, dass meine Assoziationsketten einfach zu weit hergeholt seien. Fast glaube ich, er hat Recht. Die Waffen-SS mit einem Regenschirm zu vergleichen, auf so einen Quatsch muss man erstmal kommen.
Lo - 6. Nov, 08:57

Die Stelle mit der kleinen, durchaus verhältnismässigen Rache für den Eierwurf hat mir besonders gut gefallen.
Ich würde Sie sofort zum Schirmherrn der Halloween-Gegner ernennen und Ihnen als Jünger (auch wenn ich etwas älter bin) folgen.
;-)

Shhhhh - 6. Nov, 11:52

Ich weiß nicht, ob mein Zorn ausgereicht hätte, wenn ich vorher gewusst hätte, dass es diese Unsitte gibt. Schlimm fand ich ja vor allem das Fehlen einer Erklärung. Und geht das überhaupt: ein Jünger der älter ist?
Lo - 6. Nov, 12:48

Warum nicht?
Altbier schmeckt doch auch am besten, wenn es noch jung ist.
Und Rechtsschutzversicherungen gelten auch für Linksabbieger.
Ooops: ich schweife ab ;-)
Trithemius - 6. Nov, 16:07

Zwei Dinge sind mir bei deinem launigen Bericht aufgefallen:

1) Die Vermutung: "Vielleicht wäre die Jugend ja politischer, wenn ihr nicht reihenweise die moralischen Instanzen wegbrächen...", ist ein interessanter Gedanke. Aber wäre das nicht gerade ein Anlass, politisch zu werden und den maroden moralischen Instanzen Feuer unterm Arsch zu machen, mit dem sie allerdings weiterhin Machtpositionen besetzen? Es gäbe doch sicher genug, sich aufzuregen, ohne dass "moralische Vorbilder" kommen und sagen: "Jetzt engagiert euch mal schön!" gegen die Kommerzialisierung der Hochschulen, Verflachung der Bildung, Verschulung des Studiums usw. (du kennst die üblen Entwicklungen besser als ich.)

2) Du bezweifelst die Feststellung, die Studenten 2014 seien unpolitisch. Oskar Negt könnte sicher getreulich berichten, wie es ist, wenn Studenten politisch sind und die Studentenparlamente und ASten gegen den Widerstand der Hochschulen, gegen einschlägige Gerichtsurteile ein Allgemeinpolitisches Mandat für sich reklamierten und auch wahrnahmen. Damals galt es freilich gegen einen herrschenden reaktionären Ungeist in der Politik zu kämpfen und gegen alte Nazis in Machtpositionen wie Kiesinger, Lübke und Filbinger, gegen die Grass heute ein zahnloser Greis ist. Ihm entgegenzuhalten, er solle die Fresse halten, erfordert gewiss nicht viel Mut. Wie wenige Studenten sich zu engagieren bereit sind, habe ich mal am Steintor beobachtet: http://trithemius.twoday.net/stories/bitte-richten-sie-die-vuvuzela-nach-oben/

Die Nummer mit dem Regenschirm in deiner Jackenschlaufe ist eine von denen, wenn man damit im Zirkus auftreten wollte, müsste man sehr lange üben ;)

Ich finde gut, dass du deinen Bruder gerächt hast. Zu Halloween heißt es doch: "Süßes oder Saures!" Na, und von dir bekam der Täter eben Saures.

Shhhhh - 8. Nov, 16:52

@Trithemius: Ob sich im Wegbrechen moralischer Instanzen ein Anlass fände politisch zu werden, kann ja gar keine Frage sein. Das Ergebnis liegt ja vor, ist zwar alles andere als meine Meinung, aber dennoch gibt es Leute (Studenten), die sich gegen Herr Grass engagieren, und es gibt Leute, die sich gegen allerhand andere Dinge erheben und ihren Mund aufmachen, Demos organisieren usw.
Meine Zweifel am unpolitischen Studenten ergeben sich aus meiner Beobachtung des Eierwurfs heraus, nämlich, dass wir natürlich nur das feststellen können, was uns offensichtlich präsentiert wird. Wovon wir nichts ahnen, weil es uns nicht interessiert, was wir von vorherein ablehnen, weil wir es nicht akzeptieren können, ist deshalb aber nicht weniger vorhanden und trifft uns dann manchmal etwas unvorbereitet.
Trithemius - 9. Nov, 07:34

Natürlich ist meine Wahrnehmung subjektiv, aber wenn ich beobachte, dasss bei Bildungsprotesten am Steintor mehr Polizisten waren als Studierende und sogar der studentische Redner sich geschockt äußert über die geringe Resonanz, habe ich einen recht konkreten Anlass. Der wird gestützt durch Untersuchungen, die in diesem FAZ-Artikel zitiert werden. http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/campus/hochschulpolitisches-engagement-kaum-zeit-fuer-die-revolution-11565130.html
Natürlich gibt es noch politisch engagierte Studierende. Aber es ist keine Massenbewegung, wie es nötig wäre, um etwas zu erreichen. Und ist es nicht so, dass ASten sich oft darauf beschränken, Feten und Konzerte zu organisieren? Weißt du, welche Gruppierungen im derzeitigen Studentenparlament die Mehrheit haben, wer den AStA stellt und was der in letzter Zeit politisch getan hat?

EDIT: "Bei den Wahlen für die studentischen Vertreter im Senat und in den Fakultätsräten sowie Studentischen Rat und die Fakultätsfachschaftsräte war eine Wahlbeteiligung von 11,3 Prozent zu verzeichnen. " Wahlamt Leibniz Universität

Zu Grass: Mich schockt das Attribut "alter Mann", von dem die Autoren offenbar glauben, dass es Argumente ersetzt. "eitler Mann" hätte ich noch mittragen können, denn bei Grass ist es erkennbar Eitelkeit, wenn er sich ins öffentliche Bewusstsein drängt. Außerdem kann man Eitelkeit ablegen, Alter aber nicht. Zwar kenne ich noch den Spruch aus APO-Zeiten: "Traue keinem über 30!", aber das war zumindest in der Nachkriegsrepublik sinnvoll, da man nur bei der jüngeren Generation sicher sein konnte, dass sie in der Nazi-Ära nicht mitgemacht hat. Darüberhinaus ist Lebensalter für mich kein Gesichtspunkt, der die Argumentation ersetzt. Ich ertrage sogar, dass du mich korrigierst, wenn ich schulische Erfahrungen aus 25 Jahren Praxis benenne, weil du in den Wochen deiner Schulpraktika etwas anderes erlebt hast. Witze sowieso, wie du weißt. Aber die Negierung von Erfahrung ist für mich ahistorisches Denken.
Shhhhh - 10. Nov, 23:30

Diese Wahrnehmung teile ich durchaus, außerdem finde ich sie nicht subjektiv. Ich war neulich auf der Nachttanzdemo (ca. 300 Teilnehmer und ähnlich viele Polizisten) gegen zu hohe Mieten und unterhielt mich mit einem Altpunk, der recht häufig auf solche Demos geht über dieses Thema. Er sagte mir, dass die Talsohle mit den Protesten zu den Studiengebühren erreicht war und es seitdem, wenn auch nur sehr langsam, wieder aufwärts geht. Er hatte eine sehr hohe Meinung von seinen WG-Mitbewohnern, allesamt Studenten, die sich politisch engagierten - nur eben nicht so, wie er das noch vor 20 Jahren gemacht hätte.
Was die Massenbewegung anbelangt, so ist kaum vorstellbar, dass eine solche mit der Jugend überhaupt noch zustande kommt, denn es gibt keine Masse mehr. In Zahlen ließe sich das zum Beispiel so ausdrücken: auf einen Wähler zwischen 18 und 30 Jahren kommen zwei Wähler ab 60+.
Die ASten sind mir ehrlich gesagt herzlich egal, deine Einschätzung teile ich, auch wenn ich es selbst kaum besser weiß als du. Aber das ist eben nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass es deshalb nicht weniger politisch engagierte Studenten gibt, sondern wahrscheinlich nur anders engagierte. Die Frage ist, ob es uns, mich, andere Studenten, Schriftsteller wie Herr Grass oder Leute wie du überhaupt interessiert, was neben den "etablierten" Einrichtungen an Politik gemacht wird. Ich ahne da eine ganze Menge.
Das Attribut "alter Mann" finde ich gegenüber so mancher Aussage im Text doch eher harmlos, "halt die Fresse" ist für mich kein Umgangston, den ich erwarte, wenn ich mich zur Diskussion stellen möchte, denn diese Aufforderung signalisiert alles andere als den Willen zum Meinungsaustausch. Dein Spruch aus APO-Zeiten können wir gerne so stehen lassen, sollten allerdings auch hier mit der Zeit gehen, wie wäre es stattdessen also mit: Traue keinem über 80!?
Worauf beziehst du dich, wenn du behauptest, ich würde deine 25 Jahre Erfahrung aus schulischer Praxis mal so eben korrigieren? Kommt das aus dem zweiten Kommentarstrang? Bezieht sich das auf das ahistorische Denken? Ich korrigiere dich gern und immer wieder, wenn ich solche Pauschalurteile hören oder lesen muss wie "die unpolitische Jugend" oder "der junge Mensch interessiert sich keinen Deut mehr für die Erfahrungen älterer...". Wenn Platon schon festgestellt hat, mit der Jugend stimme etwas nicht, und es dennoch Fortschritt gab seitdem, so scheint es mir, dass er nicht besser ist, als die Leute, die heute das Gleiche angeben und wohl auch den ein oder anderen Punkt übersehen haben mussten. Ich würde es absolut schade finden, wenn du in deiner 25jährigen Berufspraxis nicht einen Menschen dabei hattest, der sich heute politisch engagiert, ehrlich gesagt, ist diese Vorstellung so absurd, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass du selbst daran glaubst.
NeonWilderness - 6. Nov, 16:49

Ich stimme Trithemius in seinem ersten Punkt voll zu: die Vorstellung, es müsste nur hinreichend genug funktionierende moralische Instanzen geben, um politisches Denken der Jugend zu instantiieren — oder im Umkehrschluss: die wegbrechenden moralischen Vorbilder seien Schuld an einer unpolitisierten Jugend, halte ich für abwegig und im Gedankengang für viel zu passiv und entschuldigend. Dieses Denkparadigma hilft ausschließlich dabei, eigene Untätigkeit, eigenes Desinteresse, eigene Asozialität im Sinne eines abhanden gekommenen Gemeinschaftswohldenkens anderen Instanzen oder gar der Mängelbehaftung von Einzelpersonen anzuhängen und sich damit besser fühlen zu können.

Die Ursache liegt doch viel mehr im Bereich einer gelenkten, nützlichen und von der Jugend freiwillig zugelassenen (gar gewollten) Ablenkung durch Internet, Smartphone, Medien, die ihre Wachzeit vollständig dominieren und kein Interesse, geschweige denn nachhaltiges Engagement, für andere, wichtigere Dinge aufkommen lässt.

Letztens las ich eine englische Frage auf reddit, die (aus der Erinnerung) ungefähr so lautete: "Wie kann es sein, dass ich einerseits entsetzliche Angst vor der Ausprägung der Zukunft habe und gleichzeitig ein enormes Desinteresse, diese positiv zu verändern?". Die Krankheit unserer Jugend besteht doch nicht aufgrund der von Ihnen ins Feld geführten Lance Armstrongs, Edathys oder Guttenbergs dieser Welt. Solche Typen gab's doch immer! Auch in unserer Jugend. Zu jeder Zeit.

Zu Grass: Geschenkt, ich mag ihn auch nicht besonders, weil er allzu gerne unterschiedliche Wertmaßstäbe anlegt und lieber andere Zwiebeln häutet als sich selbst — jedoch, ihn mit Typen wie Edathy und Big-Brother-Zlatko in einem Atemzug zu nennen, scheint mir dann doch ein wenig zu simpel und unangemessen.

Shhhhh - 8. Nov, 17:06

@Neon: Vielleicht ist der Gedanke von mir tatsächlich ein wenig kurz gegriffen, allerdings wäre es auch nicht richtig, die Rolle von "Vorbildern" zu unterschätzen. Fühhrte es vielleicht nicht gleich zum unpolitischen so doch wenigstens zur Politikverdrossenheit, was sich an der Wahlbeteiligung durchaus ablesen ließe.
Ob die Ursache in gewollter oder gelenkter Ablenkung bestehen, sei einmal dahgingestellt, schließlich nutze ich mein Smartphone durchaus auch um in Blogs zu lesen, bzw. mich generell, nicht nur politisch, zu informieren. Das ich da ein Einzelfall bin, kann ich mir kaum vorstellen.
Zu den Edathys und Guttenbergs passt Herr Grass durchaus, denn wir reden hier nicht von einem Pfadfinderverein, dem er sich angeschlossen hat. Das Ganze mag zwar 70 Jahre her sein, das macht aber die Verbrechen, die durch die Waffen SS begangen wurden, nicht minder schrecklich. Und ob Herr Grass daran nun direkt beteiligt war oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Ich kann auch als Schaulustiger einen Verkehrsunfall begaffen und dafür belangt werden; mitgehangen mitgefangen heißt es.
Zlatko war lediglich eine Anspielung auf den überschrittenen Zenit, vielleicht kein allzu treffendes. Dennoch hoffe ich, Sie können mir in Anbetracht der Ungenauigkeiten, die es in der Vita Grass gibt, meine eigene Ungenauigkeit verzeihen;)
nömix - 6. Nov, 19:35

Man muss Herrn Grass nicht mögen, aber der verlinkte »Halt die Fresse, alter Mann!«-Text ist so unerhört dumm, dass er seinen Verfassern um die Ohren gehaut gehört – wer auch immer diese Typen sein mögen. Überdies haben die sich den hirnverbrannten Schmarrn über Grass’ (man bedenke: eines damals 15-jährigen Halbwüchsigen!) »eigener, tiefer Verstrickung in das NS-Regime« (sic) nichtmal selber ausgedacht, sondern wörtlich von einem SPIEGEL-Artikel abgeschrieben, welcher wiederum seinem Verfasser seinerzeit ebenfalls schon um die Ohren gehaut gehört hätte. (ich habe mich bereits damals darüber empört.)

Trithemius - 6. Nov, 20:12

Den Text hatte ich nicht gelesen, denn der Slogan: "Halt die Fresse, alter Mann", hat mich doch richtig erschreckt. Er entspringt einem ahistorischen Denken - der junge Mensch interesssiert sich keinen Deut mehr für die Erfahrungen älterer, urteilt rasch ab, kanns nicht besser, will aber auch nicht wissen, wie es besser geht.
Hab schon immer gewusst, dass es ein Effekt der unsinnlichen Weise ist, mit der wir mittels Schrift Wissen speichern und vermitteln, mit Platon gesagt: "Von der Weisheit aber verabreichst du den Zöglingen nur den Schein, nicht die Wahrheit; denn vielkundig geworden ohne Belehrung werden sie einsichtsreich zu sein scheinen, während sie großenteils einsichtslos sind und schwierig im Umgang, - zu Schein-Weisen geworden statt zu Weisen."
Shhhhh - 8. Nov, 17:16

@nömix:Der Text spiegelt nicht meine eigene Meinung wider, gehört aber, wie ich finde, dazu, wenn ich schon aus "zweiter Hand" berichte und die "seriösen" Medien NP und HAZ als Quellen heranziehe (diese habe ich übrigens nicht verlinkt, weil, ach, das können Sie sich bestimmt denken;)). Im Übrigen war Grass 17, als er zur Waffen SS ging. Mit 15 Jahren zur Wehrmacht zu gehen, ist natürlich ein harter Schritt, für diese Zeit aber sicherlich nicht unüblich, schließlich begann man in diesem Alter ja auch eine Lehre oder ging sonstwie arbeiten. Den Schritt, zur Waffen SS zu gehen, das ist dann schon ein ganz anderes Kaliber, da taugt das Argument, der elterlichen Enge zu entkommen, auch nicht mehr.

@Trithemius: Ja, der Text ist in der Tat ziemlich drastisch. Deine Schlussfolgerungen daraus allerdings auch. Inwiefern ist das ahistorisches Denken? Genau dieser Pauschalisierung vom "jungen Menschen", der sich keinen Deut mehr für die Erfahrungen Älterer interessiert, wollte ich eigentlich nicht begegnen, genauso bei Grass, der die Jugend "unpolitisch" nannte und die Jugend nicht kennt, sondern höchstens ein paar Häufchen.
Shhhhh - 8. Nov, 17:18

@alle: Leider konnte ich nicht früher darauf antworten, die Performance war grauenhaft, als ich hier einstieg und jetzt erst bin ich dazu gekommen, meine aufgezeichneten Kommentare abzuliefern.

Trithemius - 11. Nov, 12:52

Das statistische Bundesamt verzeichnet für das Wintersemester 2013/2014 2.616.881 Studierende. Für 1968/69 (im Westen Zeit der Studentenproteste/APO) fand ich nur eine Angabe aus 2. Hand, aber diese Quelle nennt 289.201 Studierende http://www.thomas-p-becker.de/TPB/Geschichte/1968.htm - demnach glaube ich nicht, dass dein Argument zieht wegen des demographischen Wandels käme keine Massenbewegung zustande. Viel eher glaube ich, dass die FAZ nahe an den Ursachen ist, wenn sie schreibt: "keine Zeit für die Revolution". Ich habe als SV-Lehrer am Gymnasium erlebt, dass die Schüler, die sich besonders in der Schülervertretung (SV) engagierten, ihre schulische Laufbahn vernachlässigen mussten und sogar scheiterten. Ähnlich kann sich in der Hochschulpolitik nur engagieren, wer sein Studium finanziert bekommt und nicht nebenher jobben muss. Es überwiegen dort demnach 2 Typen, einmal die wenig zielorientierten Studierenden, die sich die Zeit für Proteste und "Revolution" einfach nehmen, weil sie andere Prioritäten haben, und die Studierenden, die eine politische Karriere vorbereiten. Denn die hochschulpolitische Arbeit innerhalb der verfassten Studentenschaft ist ein gutes Training demokratischer Verfahrensweisen in der Politik.

Übrigens haben Schüler und Studenten in den 68ern die Möglichkeit der Mit -sprache und -entscheidung über Schüler- und Studentenvertretungen in den schulischen, bzw. universitären Gremien erkämpft. Daher solltest du den AStA nicht einfach so abtun. Es gibt also sogar Organisationsformen politischer Arbeit innerhalb unserer Bildungseinrichtungen, die aber offenbar nicht mehr geschätzt werden. Stattdessen munkelst du von geheimem und nicht offenbarem Engagament. Meinst du eine Sorte innerer Emigration?

(Korrigiert hast du mich bei einem Kneipengespräch, ich sagte, glaube ich, dass die 8.Klassen am schwierigsten zu handhaben sind. Du warst anderer Meinung, also habe ich nicht darauf beharrt. Denn manche Erfahrungen muss man selbst machen, sonst sind sie nichts wert.)

Zu Platon. Er kritisiert die Wirkung der Schrift. Hinzufügen möchte ich, dass in mündlichen Kulturen der Rat der Ältesten entscheidet und Jünglinge nichts zu sagen haben. Durch Schriftgebrauch wird das Verhältnis umgekehrt. "Halt die Fresse, alter Mann!"

Shhhhh - 11. Nov, 19:51

Und trotz der durch die Studentenbewegung der 68er geschaffenen Institutionen zum Schutz der Interessen Studierender kam es zu solchen Unwüchsen wie dem Bologna-Prozess. Dagegen haben übrigens ebenfalls nicht wenige protestiert, wenngleich die Zahlen für 68 wahrscheinlich nicht vergleichbar sind. Ich habe den ASta nicht einfach abgetan, sondern mich mangels besserer Kenntnis deiner Meinung angeschlossen.
Ich redete nicht von geheimen, sondern lediglich von Engagement, dass uns entweder nicht zugänglich ist oder sich uns nicht präsentiert, weil wir darüber hinwegsehen. Auf der Nachttanzdemo traf ich in der Wilhelm-Busch-Str. ein älteres Pärchen, das ich vom Sehen kannte, die fragten mich, was das hier sei. Ich erklärte es ihnen und sie entschlossen sich kurzerhand mitzugehen, das wäre sowieso ihre Richtung gewesen. Die Stadt, insebsondere Linden und die Nordstadt sind nachwievor mit rosa Plakaten übersättigt, die kann man gar nicht übersehen. Nur wenn es einen sowieso nicht interessiert, liest man eben keine Plakate. Das es vor nicht allzu langer Zeit einen Aufruf der politisch motivierten Plakatierer gab gegen allzu schnelle Plakatierer der Veranstaltungsleute ist wahrscheinlich auch nur den Plakatierern und einer kleinen Minderheit aufgefallen, das deshalb für nicht existent zu erklären, nur weil man es nicht wahrnimmt, darum ging es mir. Ich munkel hier nicht herum, es gibt tausende solcher Beispiele in tausend Städten.
Der Wirkungsgrad einer 68er Demo mag für dich ja weitereichender gewesen sein, als 300 Leute des Nachts durch die Straßen ziehen, damit hast du wahrscheinlich sogar recht, die Lautstärke dieser wenigen war mit Hilfe von Technik, die es im Jahre 68 so noch nicht gab, durchaus ebenbürtig. Nächtliche Ruhestörung als Pendant zu besetzten Plätzen und Straßen halte ich für ein effizientes Mittel der Wahl, wenn man weiß, man wird nicht mit vielen Teilnehmern zu rechnen haben.
An das Kneipengespräch kann ich mich nur bruchstückhaft erinnern. Da ich bislang nur drei Schulen unterrichtet habe, werde ich deine Aussage berücksichtigen, wenngleich ich bislang feststellen musste, dass 5. Klassen wesentlich anstrengender sind (sind meistens zwischen 30-35 Schüler stark und flohzirkusartig, während die 8. aus vielleicht 25 Schülern bestehen, die zwar ebenfalls anstrengend sind, aber doch leichter zu kontrollieren - das ist mein Eindruck).
Zu Platon: indem wir also nachlesen, was zu Platon geschrieben steht, erlangen wir Schein-Weisheit, die mit "echter Weisheit" kaum zu vergleichen ist. Wie kommt dann - du deutetest ja bei Grass schon an - dieser eitle Gockel dazu, seine Gedanken für uns aufzuschreiben, wie kommen nur all die anderen dazu? Wenn Platon nicht auch noch etwas anderes geglaubt hätte, nämlich dass es bestimmt jemanden geben könnte, der seine Aufzeichnungen richtig benutzt, hätte er uns nichts hinterlassen. In seinem pessimistischen Ausblick kann demnach doch nur ein Teil der Wahrheit stecken?

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