Gedankeninseln
Unser selbstverliebtes metaphysisches Literaturgelaber, sagte Herr Putzig, ginge ihm ganz schön auf den Sack, und
Trithemius, der gerade einen Brocken Pumpernickel aus seiner Hemdtasche hervorholte, bat mich das aufzuschreiben. Währenddessen saß ich da und versuchte mein Bier mit einem Radiergummi zu öffnen, als Trithemius schon wieder etwas meinte, nämlich ob ich mich an den Typ auf dem Fahrrad erinnern könne, der sein Bier mit den Zähnen auftat und den Deckel danach elegant in einen Mülleimer schnickte. Das konnte ich nicht. Das hatte er sich ausgedacht, weil er etwas suchte, womit er sich den Begriff des Thekencapoeira erklären konnte. Den Begriff hatte ich schon längst wieder vergessen, obwohl ihn Herr Putzig in unser aller Dabeisein geprägt hatte und mir prompt ein Beispiel eingefallen war. Thekencapoeira ist eine Sportart für Tresenkräfte, bei der der Schwung einer Bewegung in kommende Handlungen mit einfließt. Am Strandleben, weil die linke Kühlschranktür nicht richtig schloss, habe ich noch während ich das Bier herausnahm, des Öffnerzückens, Abhebelns des Deckels, des Abstellens auf dem Tresen mein rechtes Bein gehoben und in der Drehung zurück zum Tresen mit der Fußspitze des nach hinten ausgestreckten rechten Beins gegen die Kühlschranktür getreten, damit diese auch geschlossen bleibt. Dann sagte ich: „3,50 €, ein Euro ist Pfand.“
Ich saß bei Trithemius auf ein Kölsch. Wir trinken immer Kölsch, wenn ich bei ihm sitze. Ich sitze dann immer in einem Sessel, während er mir gegenüber sitzt auf seiner Couch. Dies ist eine der seltenen Gelegenheiten, wo er mir nicht seine starke rechte Seite zuwendet, sondern die Front. Das macht aber nichts.
Zwischen uns steht ein Tisch, auf dem wir unser Bier parken, auf dem Trithemius seine Bücher parkt, seine Korrespondenz und ich glaube eine Häkeldecke liegt da auch, hehe. Unter dem Tisch parkte er an diesem Abend eine Marzipankartoffel. Ich liebe Marzipankartoffeln aber bei bodennahen Präsenten bin ich immer ein wenig vorsichtig, auch wenn sie in geschlossenen Räumen vorkommen. Trithemius hat ja sogar eine Haushaltshilfe, die dafür sorgt, dass man vom Boden essen kann. Er stieß kurz zuvor eine Mineralwasserflasche um, es sprudelte und ein ziemlich großer Strom gelangte auf seinen Dielenboden. Er holte eine Papierrolle aus der Küche und wischte es auf. Ganz stolz zeigte er mir, wie sauber doch es bei ihm sei, denn es war kein Staub daran zu finden, lediglich die Flecken des Wassers.
Nur diese Marzipankartoffel lag da unter dem Tisch. Er sagte, er hätte diese verloren und kommt da auch so selten hin, also unter den Tisch, weshalb sie immer noch dalag, als ich kam. Ich sagte ihm, was ich davon hielt, nicht was ich dabei dachte. Ich dachte an
Gianni Rodaris Kinderbuch „Zwiebelchen“, mein Lieblingsbuch in meiner Kindheit, wo das besagte Zwiebelchen für einen Lord, Fürst, Baron oder was auch immer, schuften musste und wenn es besonders fleißig war, dann durfte es ein leeres Bonbonpapier ablutschen. Das Buch erschien in der gleichen Reihe, wo auch schon „Tom Sawyer“ oder „
Alfons Zitterbacke“ oder „
Timur und sein Trupp“ abgedruckt worden. Ich hatte sie alle irgendwann einmal gelesen, aber „Zwiebelchen“ darauf kam ich immer wieder zurück. Es gab in dem Buch auch Illustrationen. Da war eine dabei, daran erinnerte ich mich später immer, wenn mir die Strafgefangenen von Escher über den Weg liefen. Das Bild, wo die Leute immer bergan gehen, im Kreis. Ich musste dabei an „Zwiebelchen“ denken.
Ich musste auch diesmal an „Zwiebelchen“ denken, als ich die Marzipankartoffel da so liegen sah und bugsierte Trithemius sogleich in die Rolle des Barons, ja ich glaube es war Baron Tomate, der seinen „Schützlingen“ ein Bonbonpapier übriglässt, damit sie die Süße einmal kosten dürfen. Ich tue Trithemius dabei natürlich unrecht, aber für meine Assoziationen kann ich ja nichts, die sind mir ja sozusagen eingewachsen wie ein Fußnagel.
Trithemius allerdings ist ja auch nicht frei von Assoziationen und ich kenne seine Gedanken natürlich nicht, vor allem nicht, was er dabei so denkt und wie das zustande kommt. Er sagte mir aber, was er dabei für einen Gedanken hatte, nämlich, dass die Marzipankartoffel ein Test für seine Haushaltshilfe sei, das dachte er, würde ich denken. Wie er darauf kam, weiß ich nicht, aber er wird daran wahrscheinlich genauso wenig unschuldig sein, wie ich bei meinen Gedanken. Wir ertappten uns also beide, sagten nur die bequeme Hälfte und lachten darüber. Über die Marzipankartoffel.
Yoghurt Gums. Die habe ich mir gerade gekauft und völlig unreflektiert in mich hineingefressen. In Rekordzeit. Ich hatte wohl ein dringendes Bedürfnis nach Zucker. Jetzt, wo die Packung leer ist, sehe ich erst, was ich da gerade verschlungen habe. Vegetarisch, natürliche Aromen und Farbstoffe, alles herrlich fruchtig und so schön soft.
Es gab 6 unterschiedliche Geschmacksrichtungen in unterschiedlichen Anteilen. Alles ist nach Farbe und Form unterschieden. Die Birnen sehen aus wie eine kleine halbierte Birne ohne Kerne und Stiel, wer mag die schon, Kerne und Stiel. Die Erdbeere ist auch halbiert und rund und mit winzigen, den Kernen nachempfundenen Vertiefungen in der Hülle. Himbeere und Zitrone, je zur Hälfte, sind, ach, Sie wissen wahrscheinlich, wie diese Früchte aussehen, wenn man sie in der Mitte durchschneidet und die Kerne, Stiele und sonstigen unliebsamen Bestandteile weglässt und lediglich eine schöne Frucht, halbiert, übrigbleibt.
Die Kirsche und die Heidelbeere sind leider nur ganz entfernt als solche zu erkennen, was auch damit zusammenhängen mag, dass die Proportionen bei der Fruchtkopie aus Gelantine – ach nee, die ist da ja gar nicht drin –, aus Gummizeugs leider nicht beibehalten wurden. Alle Früchte sind gleich groß, rund und halbiert.
Ich habe beim Essen keine Unterschiede gemacht. Ich habe einzeln, zu zweit, zur Hälfte abgebissen, in meinen Mund gestopft, darauf herumgekaut, geschluckt und von Neuem begonnen, bis die Tüte alle war. Ich hatte keine Geschmacksunterschiede und auch keine Geschmackserlebnisse, nicht mal zur Hälfte.
„Montag ist Schontag“, begann mein Hauptfeldwebel einmal zum morgendlichen Antreten sein Ansprache, um uns kurz darauf in Stuben zu schicken. So ähnlich begann mein Tag heute, als ich mich der Lektüre meine heutigen Seminare widmen wollte. Ich stellte fest, dass die heilige Cäcilie von Kleist aus nur drei Seiten bestand. Ich druckte mir den Text aus und begann zu lesen. Mitten im Satz brach die Erzählung ab.
Von der Bundeswehr war ich später nichts anderes mehr gewohnt, wenngleich diese Eröffnung damals einigen Eindruck auf mich machte; von einem Seminar der Literaturwissenschaft hatte ich mir indes anderes versprochen.
Heute bekam ich einen Anruf von jemandem, den ich schon sehr lange nicht mehr telefonisch gesprochen hatte. Ich konnte das Gespräch nicht annehmen, weil ich mich gerade in der Uni in einem Seminar befand, dafür aber konnte ich mich nicht mehr auf das Seminar konzentrieren. Ich malte mir aus, was er denn von mir wollen könne.
Wir haben einst zusammen gearbeitet, dann haben wir auch gemeinsame Freunde und Bekannte, wir haben auch schon einiges zusammen gemacht, Pokern zum Beispiel und zuletzt haben wir uns ein wenig aus den Augen verloren, weil wir eben nicht mehr zusammen arbeiten. Hin und wieder läuft er mir im Moritz über den Weg, einer Bar bei den Sportwissenschaftlern, die ich genauso beliefere wie das Spandau, aber eigentlich haben wir kaum noch etwas miteinander zu tun.
Und dann kommt dieser Anruf. Er wohnt in einer herrlichen Altbauwohnung mit ein paar langjährigen Freunden zusammen. Einer unserer gemeinsamen Freunde ist kürzlich ausgezogen, ich habe dabei geholfen, und auch sonst scheint es ja gerade einige Veränderungen in seinem Umfeld zu geben und da dachte ich, vielleicht löst sich ja seine WG auf und er will mich nun fragen, ob wir in die Wohnung ziehen wollen.
5 Zimmer, Küche, Bad, direkt am Lindener Marktplatz gelegen, Balkon, sogar zwei Bäder, alles Dielenfußboden, ein bisschen abgerockt vielleicht aber eigentlich eine echte Traumwohnung. Das Zimmer ganz vorn ist ein wenig dunkel aber als Kinderzimmer geht das wohl, danach käme das Wohnzimmer mit Balkon, dann ein weiteres Kinderzimmer und ein Arbeitszimmer und zu guter Letzt, nach hinten raus würden wir unser Schlafzimmer einrichten. Laut ist es allerdings nicht dort, weder von der Straße, noch von Nachbarn, denn darüber wohnt niemand mehr und es ist auch die einzige Wohnung dieser Etage.
Ich müsste wahrscheinlich die Dielen abschleifen, also nur oberflächlich, tapezieren muss ich dann auch, wenigstens die Küche und die großen Zimmer, der Flur braucht nur einen neuen Anstrich. Ein kleiner Wermutstropfen ist, dass dort mit Gas gekocht wird, wo wir uns doch vor einiger Zeit ein Induktionskochfeld zugelegt haben. Die Küche muss ich sowieso komplett umbauen, die passt so gar nicht in den Raum.
Ich rief ihn zurück, gleich nach Ende des Seminars, er ging nicht ran. Er rief kurz darauf zurück, was ich nicht bemerkte und erst als ich dann wieder anrief, hatte ich ihn am Apparat. Er wollte wissen, warum ich immer so viel unterschiedlichen Käse kaufe, wo sie doch eigentlich nur eine Sorte benutzen würden, nämlich den Gouda für die Burger. Darauf wusste ich keine Antwort, ich hatte gerade ein paar Lampen angeschraubt.
Als ich gestern aus dem Kiosk trat, fühlte ich mich tatsächlich erleichtert. Ich sollte irgendwas um die fünf Euro bezahlen, sortierte noch mein Kleingeld, als dem Mann hinter der Theke plötzlich ein „Ach!“ entfuhr. Er bat mich um Entschuldigung, bonierte erneut all die Kleinigkeiten in die Kasse ein und kam dann auf glatte sieben Euro, die ich zu bezahlen hätte. Ich überschlug in Gedanken und stimmte ihm ebenso zu.
Ich legte ein Zweieurostück zu dem Schein – eine lächerliche Aufgabe gegenüber dem Abzählen von Fünf-, Zehn- und Zwanzigcentmünzen – und ich dachte, nein, wunderte mich in diesem Augenblick darüber, weshalb mir vorher nicht schon aufgefallen war, dass die 5,65 Euro, die ich zu bezahlen hätte, viel zu günstig gewesen seien für all die Kleinigkeiten.
Ich wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als plötzlich eine Frau in das Geschäft trat und eine Tüte Chips verlangte. Die Regale in dem Kiosk gehen bis unter die Decke, selbst ich komme an das Fach mit den Chips nicht heran. Der Mann hinter dem Tresen nahm sich einen Greifer vom Haken neben der Kasse, so einen, wie sie zum Aufsammeln von Müll verwendet werden, langte hinüber in das Chipsregal und erntete eine Packung Paprika.
Ich sagte dann nichts mehr. Das Greiferkonzept war so durchdacht, dagegen war meine Erwiderung viel zu dünn.
Gestern tat ich meinen letzten Dienst am Strandleben für dieses Jahr. Es waren nur zwei Stunden, Gäste hatten wir kaum, dafür aber jede Menge aufzuräumen, weil am Nachmittag doch noch einige das schöne Wetter genutzt und dem Strandleben einen Besuch abgestattet hatten. Davon bekam ich nichts mit, weil ich den Nachmittag im Zoo verbracht hatte und erst am frühen Abend meine Schicht antrat. Da war bereits alles gelaufen.
Alle Menschen, die ihren Tag gestern übrigens nicht am Strandleben verbracht hatten, sind mit ihren Kindern in den Zoo gegangen. Würde der Eindruck nicht ein wenig einseitig daherkommen, müsste ich angesichts der Kinderschwemme im Zoo den demographischen Wandel als ein Schreckgespenst abtun, mit dem uns die Politik nur höhere Rentenbeiträge aus dem Kreuz leiern will, um die nächste Diätenerhöhung finanzieren zu können. Ich aß den halben Zoo leer, hatte ich das Gefühl. Hier noch eine Brezel, da ein Eis, ein paar Nudeln noch und das mitgebrachte Essen musste auch dran glauben. Mein Sohn, dessen Augen noch größer waren als mein Magen, bestellte und ich aß es dann auf, wenn er die Lust verloren hatte.
Der Samstag ist ebenfalls ruhig verlaufen. Die Party am Abend war voll, laut und verraucht und ich war erstaunlich früh, also vor 12, zu Hause. Ich fühlte mich unwohl wegen der ganzen Erdnussflipse, die ich essen musste. Die Schüssel stand direkt da, wo ich mich hingesetzt hatte und ich hörte nicht eher auf, in diese hineinzugreifen, bis sie restlos alle war. Dass ich vorher bereits das vegane Chili con Carne in ausreichender Menge zu mir genommen hatte, hätte ein unbeteiligter Beobachter niemals für möglich gehalten. Davor, keine zwei Stunden her, war ich beim Chinesen und hatte mir zur Feier des Tages eine kleine knusprige Ente mit Reis und Gemüse servieren lassen, die ich im Kreise seiner Familie zu mir nahm. Seine drei Kinder spielten im Gastraum mit Lego, die beiden älteren Kinder schmiedeten und verwarfen Allianzen, während der Jüngste die Roboter, Flugzeuge, Raumschiffe und anderen Ungetüme in Masse produzierte, die dann die älteren unter sich aufteilten.
Wenn wir zwei zusammen kämpfen, können wir doppelt so stark sein, sagte das Mädchen zu ihrem Bruder, und der meinte, das ginge nur, wenn sie ihn dann genau so stark machen würde, wie sie ist. Das machte der Jüngste möglich, weil er gerade ein zusätzliches Gerät entworfen hatte, dass die Flotte gegen ihn erweitern sollte. Der Jüngste blieb dabei völlig gelassen, er selbst hatte eine immense Anzahl von Kriegsgerät vor sich versammelt und in absehbarer Zeit konnte die geschmiedete Allianz der beiden älteren nicht reichen, um ihn auch nur annähernd zu gefährden.
Ich aß die Ente währenddessen, die sich zu der Brezel gesellte, die ich am Strand vertilgt hatte. Denn auch am Samstag hatte ich die Schlussschicht am Strand und da gibt es Brezeln. Es war ein trauriger Dienst, den nicht einmal die Gespräche mit meinem Arbeitskollegen aufheitern konnten. Wir spürten beide, dass es sich wohl demnächst erledigt hat mit dem Strandleben.
Heute Morgen hatte ich zum ersten Mal seit zwei Tagen keinen Hunger, dafür hatte mein Sohn seinen Füßen über Nacht Namen gegeben. Greta hieß sein linker und Balu sein rechter Fuß. Ich überlegte, ob ich ihm sagen sollte, wie mein Bauch heißt, verwarf den Gedanken aber wieder, weil mir etwas Besseres als Balu auch nicht eingefallen wäre, und so hieß ja schon sein Fuß.
Kurz bevor ich gestern zur Mensa fahren wollte, ich war gerade in Begriff die Wäsche auf den Dachboden zu bringen, kam mir eine völlig abstruse Idee. Anstatt mit dem Fahrrad zu fahren, wie es meiner Gewohnheit und auch den Verkehrsverhältnissen entspricht, wollte ich mit dem Auto dort hinkommen. Dazu muss ich sagen, der Weg zur Mensa ist mit dem Auto ungefähr so bequem wie ein Sessellift bergab: entweder über den Westschnellweg und mit dem Risiko eines Staus verbunden oder quer durch die Stadt, was ebenfalls sehr lang dauern kann. Mit dem Fahrrad brauche ich bei entspannter Fahrweise ca. 10 Minuten.
Ich weiß nicht, woran es gelegen hat, vielleicht an den Stufen zum Dachboden hinauf, jedenfalls huschte dieser Gedanke in meinem Kopf herum. Eine fixe Idee, mehr noch ein ganzes Gedankenkonglomerat, denn mit dem Wunsch Auto zu fahren, muss unweigerlich auch eine Rechtfertigung dafür mitgedacht werden. Meine Frau hat sich nämlich kurz vorher zu Fuß auf den Weg gemacht, weil sie 1. länger braucht, 2. ich die Wäsche aufhängen sollte und 3. sie danach mit der Straßenbahn noch irgendwohin wollte. Führe ich jetzt mit dem Auto, dann hätte ich sie 1. mitnehmen können, 2. nicht so antreiben müssen ( wir waren und sind eigentlich immer zu spät dran ) und 3. einen Disput über den Nutzen und Unsinn solcher Autofahrten riskiert, bei dem ich definitiv die schlechteren Argumente gehabt hätte.
Und so gebar ich die Idee, mit der ins Schloss fallenden Tür. Ich hätte lediglich den Schlüssel zum Dachboden dabei gehabt, würde ich sagen, ging die Wäsche aufhängen und auf dem Rückweg bzw. direkt vor der Wohnungstür stehend bemerkte ich meinen Fehler. Nach nochmaligem Kramen in meinen Hosentaschen wäre mir aufgefallen, dass ich statt meines Wohnungsschlüssels, an dem auch der Fahrradschlossschlüssel angebracht ist, den Autoschlüssel zufällig in der linken Hosentasche bei mir trug. Was für ein glücklicher Zufall. Ich würde den Stau in Kauf nehmen und mich bequem mit dem Auto auf den Weg zur Mensa machen und alles wäre erklärt. Dort würde ich den Wohnungsschlüssel meiner Frau nehmen, den sie danach nicht gebraucht hätte auf ihren Besorgungen und wenn wir uns spät nachmittags wieder getroffen hätten, wäre alles in Butter gewesen.
Das alles war natürlich ganz großer Unsinn, lenkte mich aber genügend von dem beschwerlichen Weg nach oben ab. Ich hängte die Wäsche auf, ging wieder runter, packte meine Sachen zusammen und fuhr mit dem Fahrrad zur Mensa. Ich kam 6 Minuten zu spät. Niemand unserer Verabredungen war bereits da, außer meiner Frau, die stand dort schon und wartete. Als ich das Fahrrad gerade anschließen wollte, kam sie zu mir gerannt und hinderte mich daran. Sie rief, nein, das ginge nicht, ich müsste noch einmal zurückfahren. Sie hatte ihr Portemonnaie im Auto vergessen, da wären die Mensakarten drin, ihr Geld und das Wichtigste: ihr Studentenausweis, ohne den sie nicht Bahn fahren könne, was sie nach der Mensa aber müsse. Also schwang ich mich wieder auf das Rad, kehrte der Mensa den Rücken und fuhr zurück. Im Auto lag in der Mittelkonsole ihre Geldbörse mit all den beschriebenen Sachen drin. Ich nahm sie heraus und mit und fuhr wieder zur Mensa. Ich brauchte insgesamt ca. 16 Minuten für alle drei Strecken.
Warum heißt es eigentlich bei „Einbruch der Nacht bzw. Dunkelheit“ aber bei „Tagesanbruch“? Haben Sie eine Idee?
Wussten Sie, dass anders als heute üblich der Tag früher über die Nacht definiert wurde? Eine Nacht ging somit von Sonnenuntergang zu Sonnenuntergang und umfasste den Tag und die Nacht gleichermaßen, während der Tag nur als Zeit zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang definiert war. Es hat also eine Drehung der Verhältnisse stattgefunden. Was früher als Nacht den Tag mit einschloss, schließt heute als Tag die Nacht mit ein.
Es gibt ein paar Begebenheiten im Leben, die werden erst so richtig wichtig, wenn man schon gar nicht mehr an sie gedacht hat. Dann schmiegen sie sich wie ein Schatten zur Mittagszeit ganz eng an die Körpermitte und verharren da, als würden sie dazugehören. Mittag ist dabei übrigens mehr als nur ein Stichwort. Zur Mittagszeit hieß es im Haus meiner Eltern, Ruhe zu bewahren. Ruhe im Sinne von Mittagsruhe. Ich erinnere mich an so manchen Mittagsschlaf, den ich auszubaden hatte, obwohl ich überhaupt nicht müde war. Ich lag dann häufig auf einem Sofa herum und starrte in das Bücherregal meiner Eltern. „Die Beatles – Ihr Leben und ihre Lieder“ konnte ich damals auf dem Buchrücken lesen oder „Amanda – Ein Hexenroman“. Bei den Beatles habe ich lange Zeit nicht gewusst, worum es ging, schließlich war es mir zwar nicht verboten, während des Mittagsschlafes die Buchrücken zu lesen, ein Buch herauszunehmen aus dem Regal, kam mir deshalb aber nicht in den Sinn. Außerdem war ich noch halber Analphabet, ich konnte geradeso lesen und las deshalb: „Die Be-at-les“, ich fragte mich oft, wer die Be-at-les wohl gewesen sein mussten, kurz ich hatte keine Ahnung.
Zu meiner Kindheit musste ich bis in die erste Klasse hinein Mittagsschlaf halten. Ich war so froh, als es nur wenig später nach meiner Einschulung hieß, meine Mutter holt mich vor dem Mittagsschlaf aus der Schule heraus. Meine Mutter war zu dieser Zeit zu Hause, weil mein Bruder kurz zuvor geboren wurde. Das ersparte mir die Mittagsruhe nicht, bedeutete aber keine halbe Stunde auf einer Holzpritsche mit Minimalbedeckung (Matratze konnte man den Lappen nicht nennen) im kalten Keller der Clara Zetkin Schule. Und ich hatte noch Glück, ich lag in der Nähe des Fensters und konnte manchmal einen Blick auf die Beine von Vorübergehenden erhaschen, Schritte zählen und mir ausmalen, wohin sie gingen, die Beine. Frau Skroplin unsere Hortnerin war zwar alt und milde, aber beim Mittagsschlaf kannte sie kein Pardon. „Augen zu!“, zischte sie, wenn sie uns beim Kiebitzen erwischte. Ich hielt mir immer die gefalteten Hände vor das Gesicht und lugte durch die Finger hindurch. Keine Regung ließ ich erkennen außer den perfekt einstudierten, regelmäßigen Atem. An ihre leicht gräuliche Dauerwellenfrisur und an ihr Kürzel in unseren Hausaufgabenheften kann ich mich noch erinnern. Sie unterschrieb immer mit „Skr“ und hätte ich damals gewusst, dass es ein Wort wie „obszön“ gibt, ich hätte mich für dieses Wort entschieden beim Anblick ihrer Unterschrift. Eigentlich war sie aber eine furchtbar nette Person und als ich dann zum „Heimschläfer“ wurde, bekam ich auch nur noch ihre netten Seiten zu Gesicht.
Als ich alt genug war, die Mittagsruhe nicht mehr liegend zu verbringen kam mir der Zeitverlauf natürlich noch quälender vor als sonst. Schließlich passierte es zu Zeiten des verordneten Mittagsschlafes nicht selten, dass ich trotzdem einschlief und die Zeit viel schneller verging als im Wachzustand. Ich machte mir anfangs zunutze, dass mein Vater auf fast alles mit „ja“ antwortete, wenn er während des Mittagsschlafes seine Ruhe haben wollte. Das ging so lange gut, bis ich ihn einmal gefragt habe, ob ich ins Schwimmbad gehen darf. Ich ging mit meiner Schwester hin und unsere Mutter suchte uns überall. Mein Vater konnte sich natürlich an nichts erinnern, erst recht nicht, uns das erlaubt zu haben. Aber mein Vater lernte im Schlaf, er antwortete von da an nur noch mit „nein“, wenn ich ihn etwas fragte.
Und gestern war Sonntag, Mittagszeit. Es wurde eine Waschmaschine angeliefert, über uns wurden Dielen geschliffen, vom Fenster drang laute Musik herein und ich sehnte mich zurück in das Wohnzimmer meiner Eltern. Ich hätte sogar mit dem kalten Keller vorliebgenommen für eine halbe Stunde Ruhe. Ich schlief trotzdem ein, so müde war ich.