Es gibt immer einiges zu kritisieren, wenn ich eine Vorlesung besuche, und immer gibt es auch zwei Seiten von denen aus ich dies beurteilen will. Da gibt es zum Einen die Forderung der Dozenten, für ein Referat ein Handout zu erstellen, damit die Hörer dem Vortrag zum Einen folgen können und zum Anderen nach dem Seminar etwas Handfestes erhalten, was sie für eigene Aufzeichnungen nutzen können. Wenn also in einer Ringvorlesung der Dozent - häufig sind das Professoren – kein Handout herausgibt, liefert er Angriffsfläche für den Hörer, der von den selben Leuten dazu genötigt wird und andererseits adeln sie sich damit selbst, indem sie auf solche Kinkerlitzchen verzichten.
Wo bin ich? Im wunderschön restaurierten Chemiehörsaal der Leibniz-Universität Hannover in Begleitung von
Trithemius, der mit nicht weniger Begeisterung an dieser Vorlesung teilnimmt. Worum geht es? Es geht um Jean Paul und Leibniz, also keine geringeren als die treibenden Kräfte in der Philosophie des 17. und der Literatur des 18. und 19. Jahrhundert. Die Verbindungen liegen auf der Hand, und wie es der eingangs erläuternde Professor feststellte, keine unfruchtbare Verbindung. Angetreten ist eine Kennerin des Fachs. Lange Zeit war sie für die Edition der Werke Jean Pauls zuständig und neuerdings widmet sie sich den Leibnizschen Briefwechseln.
Schon früh zeichnen sich zwei Schwerpunkte ab, um die der Vortrag kreist. Da ist die Monadologie von Leibniz zu nennen und das Leib-Seele-Problem, was sich in der Frühaufklärung manifestierte und bis in die Spätaufklärung heiß diskutiert wurde. Eine Lösung ist heute noch lange nicht in Sicht, es bleibt also genug Stoff für Literaten und Philosophen gleichermaßen.
Genauso früh wird mir klar, dass ich dem Vortrag in seiner Gänze nicht folgen werde, denn die Akustik lässt aufgrund des lauten Lichts ( der Lüfter des bilderwerfenden Projektors stört die akustische Aufnahme des Gesagten erheblich ) und dem mangelnden Talent der Sprecherin zu lauter und deutlicher Artikulation zu wünschen übrig.
Die Sprecherin zitiert Jean Paul, sie lässt glücklicherweise das Zitat auf dem Projektor erscheinen. Sie referiert, dass Leibniz sowohl in London als auch in Hannover zur gleichen Zeit verweilen könnte und nur durch die Trennung von Leib und Seele wäre eines der Schriftstücke zwar erdacht aber nicht verfasst worden, weil es der Seele an Händen mangelte. Die Einheit von Körper und Seele und ihrer Rezeption durch Jean Paul wird hier sehr deutlich. Leibniz selbst spricht von zwei unabhängig voneinander gleich schlagenden Uhren; ein passender Vergleich zur Ausführung Jean Pauls davor. Hier steige ich dann aus. Die Notizen dazu habe ich später frecherweise von Trithemius abgeschrieben, der insgesamt etwas aufmerksamer war als ich.
Wenn ich am linken Rand säße – immer in Position zur Sprecherin gemeint – wäre es die gleiche Position wie rechts vom Rand, wenn ich allein ihr Manuskript fokussierte. Es wären die gleichen Blätter, zu zwar unterschiedlichen Seiten geneigt – die Rechtshänderin ist unverkennbar – aber die Menge wäre immer die gleiche. Es neigt sich ein aus vielleicht einem, maximal zwei, Blättern bestehendes Bündel direkt nach unten, während der Rest des Manuskripts nichts an seiner durch die rechte Hand beigebrachte Spannung eingebüßt hat und starr dahin zeigt, wohin sich die Sprecherin wendet. Ich kann ungefähr erahnen, wie viele Blätter es noch sind. Quatsch! Ich kann optimistisch schätzen. Mit jedem Blatt, was sie zur Seite legt, schätze ich erneut – optimistisch.
Eine schlimme Vorstellung bietet die penible Ablage der Blätter, die sorgsam rückseitig aufeinander auf dem Tisch gestapelt werden. Man stelle sich vor, nachdem das letzte Blatt abgelegt ist, wird der abgelegte Stapel in seiner hinterlassenen Ordnung von Neuem aufgenommen und das Referat geht in die zweite Runde, die Rückseiten kommen an die Reihe. Meiner Gemütsverfassung zwar nicht zuträglich wäre dies trotzdem eine außergewöhnliche Performance.
Hah, das letzte Blatt ist erreicht.
Angelesen.
Aufgelesen.
Abgelegt.
Überlebt.