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Trithemius - 13. Mai, 20:08

Kann ich bestätigen. Hab oft erlebt, dass Kollegen vor mündlichen Abiturprüfungen aufgeregt waren wie die Prüflinge. Witzig ist die Liste der möglichen Bewertungsfehler. Mir scheint da eine Sorte Namenmagie mitzuspielen nach dem Motto: Benannt, gebannt. Aber das ist nicht so, besonders nicht in einem Fach wie Deutsch. Weil es ein "Richtig" selten gibt, wäre es gewiss sinnvoll, das Notenschema abzuschaffen und anders zu bewerten, denn ohne Bewertung würde die Schule ihre Aufgabe als Selektionsinstrument nicht erfüllen. Von allen Dingen, die ich am Lehrerberuf gehasst habe, stand der Zwang zur Notengebung ganz oben. Man verteilt Lebenschancen, und diese Rolle habe ich nie gewollt.

Shhhhh - 13. Mai, 20:30

Man verteilt Lebenschancen? Wären es Chancen, bestünde die Hoffnung oder wenigstens ein berechenbares Maß an Wahrscheinlichkeit, all das zu werden, was man werden möchte. Aber seien wir mal ehrlich, das hat noch niemanden, der sich ernsthaft etwas vorgenommen hat, aufgehalten;)
Lo - 14. Mai, 08:53

Zumindest aber beinflusst man die Höhe möglicher Barrieren.
Trithemius - 14. Mai, 09:00

Es ist nicht in allen Bundesländern so, aber in NRW beispielsweise muss jemand nach zweimaliger Nichtversetzung hintereinander das Gymnasium verlassen. Und man kann von einem noch unfertigen jungen Menschen nicht unbedingt dieses Zielbewusstsein erwarten, dass er sich ernsthaft vorgenommen hätte, etwa Arzt oder Ingenieur zu werden. Dein letzter Satz ist klingt ein bisschen zynisch. Ich habe Unmengen von gescheiterten Schulkarrieren erlebt, und oft traf es gerade die Schüler, die sich für Mitschüler eingesetzt hatten etwa als Klassen-, Kurs- oder Schülersprecher. Manchen fehlte nur ein Ausgleich in einem wissenschaftlichen Fach, also eine Drei statt einer Vier. Das ist doch angesichts der vielen Ungereimtheiten in der Notengebungspraxis eher eine Lotterie als ein ehrlicher Ablauf, wenn jemand, der hätte ein guter Lehrer etwa werden können stattdessen Taxifahrer wird.
Shhhhh - 14. Mai, 09:29

Du sprichst von verteilten Lebenschancen und wirfst mir Zynismus vor? Und genau das Problem, was du gerade schilderst, sehe ich in der Notenvergabe ebenfalls.
Aber gehen wir noch einmal kurz zurück: Was das Wort Lebenschancen bei mir auslöste, habe ich beschrieben. Was ich noch unerwähnt ließ, war der optimistische Beigeschmack, den das Wort "Chance" für mich hat, denn mal ganz ehrlich, die Einserkandidaten sind in dieser Verteiltaktik doch sowieso kaum von Belang, die können sich sowieso alles aussuchen und haben keinen Grund zur Klage. Es bleiben also Wackelkandidaten und die schlechten Schüler, die aus welchen Gründen auch immer, nicht die Reife besitzen, den gewünschten Schulabschluss zu machen.
Und jetzt kommen die Lehrer ins Spiel, die aufgrund von "Ungereimtheiten in der Notengebungspraxis" Lebensentwürfe zerstören. Ich denke, dass mit solchen Seminaren, wie sie an der Universität angeboten werden, durchaus eine gewisse Transparenz in der Notenvergabepraxis hergestellt werden kann. Wenn also ein zukünftiger Lehrer dahingehend sensibilisiert wird, welche Fehler passieren können, dann ist das doch eine feine Sache.
Ich finde es im Übrigen überhaupt nicht zynisch, wenn ich von einem zielbstrebigen jungen Menschen spreche, der sich irgendwann in seinem Leben - und sei es erst nach dem Abschluss der regulären Schulpflichtjahre - ein Ziel setzt und alles dafür tut, es zu erreichen. Die Chancen dafür bekommt er auch und zwar in weit besserem Ausmaß, als das noch vor 40 Jahren der Fall war.
Trithemius - 14. Mai, 10:40

Es ist dein Satz gewesen, ich habe dir nicht Zynismus vorgeworfen, dazu kenne ich dich doch viel zu gut. Also entschuldige bitte, wenn ich nicht deutlich genug gemacht habe, was ich meinte. Dieser Satz erinnerte mich an den Satz: Jeder hat seinen Marschallstab im Tornister. Das ist gewiss ein zynischer Satz angesichts der oftmals eben nicht vorhandenen Chancen. Was das betrifft stimmen wir sowieso überein.

Ein "zielstrebiger junger Mensch" kann gewiss etwas mehr erreichen als eine lahme Ente, aber man hat als Lehrer oft mit Kindern zu tun. Wenn die dann mal von einem Notenhammer niedergeschlagen werden, richten sie sich vielleicht nicht mehr auf, bevor sie überhaupt etwas wie einen Lebensentwurf haben konnten. Dass Lehramtsstudierende die Fehlerquellen bei der Notengebung systematisiert bekommen und sie damit sensibilisiert werden, ist gewiss besser als das Thema gar nicht zu behandeln, wie in meinem Studium. Was ich meinte war, dass man Fehler kennen kann, aber trotzdem nicht umhin kommt, solche zu machen.
Shhhhh - 14. Mai, 19:10

Wir sind weit davon entfernt, von Chancengleichheit sprechen zu können. Den Satz mit dem Marschallstab kenne ich auch irgendwoher, hört sich fast nach Bordieu an, haben wir darüber nicht schon einmal gesprochen?
Ich bin da ganz deiner Meinung, wenn es darum geht, dass die Fehler deshalb trotzdem passieren, wünsche mir das aber nicht. Und wenn ich dann besagte ehemalige Arbeitskollegin treffe, die vor Aufregung vor den mündlichen Prüfungen nicht schlafen konnte, so gibt mir das doch ein nicht ungutes Gefühl.
Trithemius - 14. Mai, 20:16

Die Systematisierung der Fehlerquellen in der Notengebung macht mir ein ungutes Gefühl. Denn ich fürchte, es ist der Versuch, die Praxis der Notengebung zu retten, obwohl diese Benotung längst auf den Müllhaufen der Geschichte gehört. Es ist ja auch ein Armutszeugnis der Hochschulen, wenn sie ihre Energie darauf richten, Systeme durch genaue Untersuchung und Analyse zu verteidigen oder zu erhalten, die man ernsthaft nicht verteidigen kann und nicht erhalten sollte. Weil aber gewisse Kräfte in der Gesellschaft darauf pochen, dieses Selektionsinstrument haben zu wollen, stellen sich die Universitätslehrer in den Dienst. Man will ja den gutbestallten Posten nicht verlieren, weil man unbotmäßig ist. Es ist Forschung in die gänzlich falsche Richtung, denn dass Notengebung ungerecht ist, ist ein systemischer Fehler, den man einfach nicht umgehen oder vermeiden kann. Das konnte ich heute morgen nicht so formulieren, weshalb wir uns leider missverstanden haben.

Das mit dem Marschallstab wird Napoleon zugeschrieben.
Shhhhh - 14. Mai, 20:52

Ich fürchte, Bourdieu hat plagiiert, denn ich fand den "Marschallstab" bei ihm, ohne, dass er darauf hinwies, von wem er sich diesen "geborgt" hatte;).

http://www.erzwiss.uni-hamburg.de/personal/lohmann/lehre/som3/bourdieu1992.pdf

Welches alternative Konzept zur Notenvergabe kenne ich denn? Gar keins! Ehrlich gesagt, habe ich mich noch nicht damit befasst, nach Alternativen zu suchen, und wie Sauerbier werden sie uns an der Uni auch nicht hinterhergetragen aber: Noten haben weit mehr Aufgaben zu erfüllen, als zu selektieren, hier mal eine von unseren Listen:
1.Orientierungs- und Berichtfunktion
2. Beratungsanlass
3. Pädagogische Funktion
4. Auslese-, Rangierungs-,Berechtigungsfunktion
Stellt man die Notenvergabe insgesamt in Frage, wird es ja nicht besser, sondern viel schlimmer. Denn nicht nur - worauf gewisse Kräfte in der Gesellschaft pochen - auf das Selektionsinstrument, müsste verzichtet werden, auch jede andere Funktion einer Benotung fiele unter den Tisch.

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