Wir waren gestern zu Besuch bei einer guten Freundin. Für meine Frau und höchstwahrscheinlich auch für unseren Sohn war dies nicht der erste Besuch bei ihr. Für mich schon. Ich war froh, dass Fiete Bewegungspunkte übrig hatte und so hielt ich ihn an den Händen fest und er zeigte mir mit generösen, weitausholenden Armbewegungen die Wohnung.
Er geht immer sehr vorsichtig, leicht nach vorn oder hinten schwankend und er braucht meine beiden Hände, um sich daran festzuhalten. Ich ging, weil meine Arme zwar wie Äste lang und knorrig sind aber nicht bis zu ihm herunter reichen, vornüber gebeugt wie eine alte Trauerweide hinter ihm her. Trauerweiden sind meine Lieblingsbäume, weil sie so etwas Erhabenes besitzen. Sie stehen hier bei uns im
Georgengarten vorzugsweise an einem der vielen kleinen Teiche und kämmen mit ihren Zweigen die Wasseroberfläche und das Ufergras. Ich bürstete die Luft um uns herum und bewegte im Gleichschritt langsam meine Wurzeln.
Die Wohnung ist im rechten Winkel um sich selbst gebaut. Die Zimmer sind alle ungefähr gleich groß und mit großen Fenstern ausgestattet, die bei Tage genug Licht hereinlassen. Nur das Schlafzimmer nicht, dieses Fenster zeigt ins Esszimmer, der eigentlich ein Wintergarten ist. Der Flur passt sich wie ein
Tetrisbaustein, mit dem man drei Zeilen auf einmal löschen kann (L), in dieses Gefüge ein. Die Küche und das Esszimmer (Wintergarten) ist einer dieser ungeliebten Z-Bausteine, die immer dann zu hauf auftreten, wenn man eigentlich ein I benötigt, um vier Zeilen zu tilgen. Hier passt er ausnahmsweise gut hinein. Selbst das Schlafzimmerfenster, welches in das Esszimmer mündet, stört nicht, es lädt zum Frühstück ein, im Bett.
Als Fiete und ich das Revier begutachtet hatten, gingen wir ins Esszimmer, wo sogar ein Hochstuhl auf den jüngsten Gast wartete. Schräg gegenüber auf der braun gestrichenen Wand wartete noch jemand. Eine leicht bekleidete Frau auf einem Divan an eben dieser Wand. Kein Gemälde, es war ein Druck mit einem hübschen hellen Rahmen, der einen schönen Kontrast zur dunklen Tapete bildete. Sie hatte was von Rubens - vielleicht den Schal, der das komplizierte Schenkelsystem teilbedeckte. Wie sie so dalag mit ihren verschränkt umschlungenen Beinen und dem Tuch dazwischen, musste ich an unser Bild im heimischen Schlafzimmer denken, ähnliche Konstellation bei Tuch und Bein nur statt Divan eine bunte Blumenwiese mit lauter Engeln und im Hintergrund der
Leibniztempel (der Pavillon sieht nur aus wie der Leibniztempel, eine schlichte Säulenhalle ist das) und ein Baum. Ich ließ den Blick an den Beinen herauf entlang schweifen und dachte plötzlich an runde Pyramiden mit einer Cocktailkirsche als Spitze, unmöglich um damit im Tetris zu gewinnen. Ich wandte meinen Kopf ihrem Kopf zu. Sie sah mich vorwurfsvoll an, weil ich viel zu lange ihre offensichtlichen Vorzüge gedanklich unter den Scheffel gestellt hatte.
"Hupen", sagte unsere Gastgeberin in diesem Moment und unterbrach unser Blickspiel. Ich nutzte die Gelegenheit zum Zwinkern und tat so, als hätte ich einen interessanten Satz zu sagen. Die geile Heidi oder auch träumende Maja, wie das Bild je nach BetrachterIn genannt wurde, hatte mich natürlich durchschaut aber ich wollte unserer Gastgeberin gegenüber nicht auch noch unhöflich erscheinen, also erwiderte ich:"ja, tolle Hupen", soviel zu dem interessanten Satz.
"Ganz schön groß, irgendwann sagte mal irgendwer Hupen dazu", unserer Gastgeberin war das überhaupt nicht unangenehm, von den Cocktailkirschenpyramiden zu sprechen.
"Interessant", sagte ich, tolle vier Silben in nur einem einzigen Wort. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, mich auf die Suche nach meiner Fassung machen zu sollen. Irgendwie musste sie mir beim Trauerweidenspiel aus dem Ärmel gerrutscht sein. Als es klingelte - wir sollten ja nicht die einzigen Gäste bleiben - fand ich sie wieder, neben meinen Schuhen.
Mit Fassung und Verstärkung gelang uns eine halbwegs treffende Analyse der einzelnen Bildkomponenten. Wir einigten uns darauf, dass die Brüste operiert waren, weil ein dunkler Streifen unter der rechten Brust saß. Die linke Brust war leider nicht so gut zu erkennen, sie setzte sich mit dem Selbstverständnis eines Fernsehturms über alle Bildelemente hinweg und überragte sogar den naturgemäß höher sitzenden Kopf - na gut, die träumende Maja oder geile Heidi lag ja auch auf dem Divan - eine Narbe war hier aber nicht zu erkennen.
Eigentlich wollte ich über das Essen schreiben. Es war ausgezeichnet, eine Art marrokanischer Eintopf mit Couscous. Der Eintopf hat auch einen Namen aber der war schon schwierig auszusprechen, deshalb schreibe ich ihn hier nicht auf.