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Glaubig

Vorweg bitte ich zu entschuldigen, dass es mir nicht möglich war, auf sämtliche Fachausdrücke aus der Sprachwissenschaft zu verzichten. Es handelt sich bei diesem fantastischen Wort um ein sehr junges Geschöpf, wenn nicht sogar nur um einen der feuchten Erde entsprungenem Keim deutscher Wortfindung, weshalb eine möglichst genaue, in diesem Fall bislang sogar einzigartige Klassifikation vorgenommen werden muss. Ich fühle mich deshalb geehrt und gleichzeitig in die Pflicht genommen, der erste Taxonom des Wortes glaubig zu sein.

Das Wort glaubig darf nicht mit dem Wort gläubig verwechselt werden. Es teilt sich mit diesem nicht nur einen sehr ähnlichen Wortstamm, der es in Zeiten der digitalen Kommunikation unheimlich schwer macht, es überhaupt ausfindig zu machen. Darüber hinaus sind auch die semantischen Unterschiede lediglich auf der Wortartebene zu unterscheiden. Gläubig ist ein Adjektiv. Als gläubig bezeichnen wir Menschen, die sich dem Faktischen gegenüber verschließen und lieber auf ihr Gefühl vertrauen. Bei glaubig liegt dem Ganzen nicht unbedingt nur ein Gefühl zugrunde. Vielmehr ist es eine Art von Wahrscheinlichkeit mit subjektiven Einschlag, die damit ausgedrückt werden soll.

Glaubig ist ein Adverb. Es übernimmt die Funktion eines sogenannten Satzadverbials und lässt sich in seiner Bedeutung durchaus mit dem Satzadverbial wahrscheinlich übersetzen. Wie oben bereits angedeutet hat es im Gegensatz zu wahrscheinlich allerdings eine subjektive Komponente, die sich auf die richtige Verwendung innerhalb der grammatischen Regeln auswirkt. Dazu ein Beispiel:

a) Gernot geht in die Schule.
b) Gernot geht wahrscheinlich in die Schule.
c) Gernot geht in die Schule wahrscheinlich.
d) Wahrscheinlich geht Gernot in die Schule.
e) In die Schule geht Gernot wahrscheinlich.

Ausgehend von Satz a bilden alle weiteren Sätze Modifikationen, die den Sachverhalt der Aussage abschwächen. Die unterschiedlichen Stellungen des Wortes wahrscheinlich ergeben sich aus den unterschiedlichen Fokussierungen, die wir vornehmen, die wiederum kontextabhängig sind. Was in Satz a noch Gewissheit war, wird in den folgenden Varianten eine Möglichkeit, deren absolute Menge an Möglichkeiten unbegrenzt, sich aus dem uns unbekannten Kontext heraus jedoch auf den Schulweg eingrenzen lässt. Vielleicht hat Gernot seine Schultasche dabei. Womöglich ist Gernot aber auch älter als sieben Jahre oder sieht zumindest danach aus, so dass die generalisierende Aussage, Gernot sei ein Schulkind, zutreffen mag. Wir wissen es nicht. Das ist aber auch völlig egal, ob Gernot in die Schule geht oder zum Bäcker. Das ist hier nicht der Punkt. Schauen wir uns die Sätze b-e einmal mit dem Satzadverbial glaubig an. Sprechen Sie die Sätze bitte laut aus und achten Sie dabei auf die richtige Aussprache von –ig. Insbesondere Eigner des hessischen Dialektes sollten hier auf den Trick zurückgreifen, sich das –ig am Ende des Wortes als ein –ich vorzustellen:

b) Gernot geht glaubig in die Schule.
c) Gernot geht in die Schule glaubig.
d) Glaubig geht Gernot in die Schule.
e) In die Schule geht Gernot glaubig.

Die einzige Variante, die sich unserem innewohnenden Sprachgefühl verschließt, ist die Variante d. Da glaubig über eine im Wortsinn beinhaltete Subjektivität verfügt, wäre es sozusagen doppelt gemoppelt, wenn wir die Fokussierung genau auf diese subjektive Sicht legen, nämlich, dass wir glauben, Gernot ginge in die Schule. Vielleicht wird dies in ferner Zukunft einmal möglich sein, so wie es mittlerweile ja auch möglich ist, mit weil eingeleitete Nebensätze mit Verbzweitstellung auszudrücken. Bislang konnte dieses Verhalten bei der Verwendung von glaubig jedoch nicht beobachtet werden.

Was bisher ebenfalls noch nicht feststellbar war, ist die Verwendung des Wortes als Adjektiv, so wie es bei wahrscheinlich durchaus möglich ist. Der wahrscheinliche Sieger ist denkbar, während der glaubige Sieger dämlich klingt. Noch! Wer weiß, was unsere Kindeskindeskindeskinder dazu denken werden.

Die Orthographie des Wortes glaubig hat sich nicht zuletzt aufgrund der anfangs nur mündlichen Verwendung des Ausdrucks relativ schnell eingebürgert. Die Schreibweise mit –ich am Ende wäre denkbar, konnte sich jedoch, nachdem die Schwelle vom Mündlichen ins Schriftliche überschritten war, nicht mehr durchsetzen. Dies verdanken wir wahrscheinlich den gut ausgebildeten Deutschlehrern, die unseren Kindern schon von früh an eintrichtern, dass ein –ich nur bei vorherigem –l, wie zum Beispiel bei herzlich, wahrscheinlich, höflich usw., zu schreiben ist, während alle anderen Konsonanten die Endung –ig fordern (Ausnahmen bestätigen die Regel).

Am Ende noch ein paar wenige Worte zur Etymologie. Die Zusammenziehung aus dem Verb glauben und ich, die im Verlaufe ihrer Jahrhunderte währenden Verwendung – immerhin befinden wir uns am Ende der sogenannten Glaubensepoche – von glaube ich zu glaub‘ ich und dann zu glaubig wurde, trifft gerade in Bezug auf das Ende der soeben angesprochenen Epoche des Glaubens den Geist der Zeit. Noch sind wir nicht bereit, auf den Glauben zu verzichten, aber die Vereinfachung der Redewendung „glaube ich“ zu glaubig ist keine reine Notwendigkeit, die von den Sprechern des Deutschen ausgeht. Sie kündigt auch einen Zeitenwechsel an, denn mit dieser Vereinfachung schwindet auch die Macht des Glaubens. Vielleicht ist in zweitausend Jahren das Wort glaubig die einzige Brücke, die wir noch besitzen, um uns der Semantik des Glaubens überhaupt nähern zu können.
la-mamma - 16. Jan, 11:21

die variante c wiederum geht für mich da im süden überhaupt NUR mit "glaubig". weil ich bei "wahrscheinlich" schon dringend einen beistrich (=komma) gebraucht hätte, um den satz als halbwegs akzeptables deutsch zu empfinden oder besser noch einen bindestrich davor. weil wir das "glaubig" noch gar nicht übernommen haben, würd ich aber sowieso jedes glaubig wie einen nebensatz betonen. der beitrag ruft ja fast nach einem podcast zur interkulturellen verständigung;-)

Shhhhh - 18. Jan, 09:12

Der ursprüngliche Einschub, glaube ich, wurde und wird ja nach wie vor in Kommata eingekleidet, allerdings ist es ein Hauptsatz;).
steppenhund - 16. Jan, 13:17

Falls ich den Text richtig verstanden habe, drückt "glaubig" eine Einstellung aus, die sich auf Fakten bezieht, aber nicht unmittelbar logisch aufgrund der Fakten abgeleitet werden kann. Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, ob meine Auslegung die richtige ist.

Aber ich kann mir schwer vorstellen, dass das Wort selbst vernünftig einzusetzen ist. Wer würde schon den genauen Unterschied zu gläubig, (ich bin mir bewusst, dass es hier zwei ganz verschiedene Bedeutungen gibt.) wirklich verwenden. Möglicherweise Philosophen und Sprachwissenschaftler. Aber da würde ich mir besser unterscheidbare Begriffe wünschen.

Im Englischen gibt mehrere Paare, wo die Worte vollkommen unterschiedliche Bedeutung haben. Trotzdem wette ich, dass die meisten native English speakers sehr häufig die Unterscheidung gar nicht kennen oder wahrnehmen. Ein Beispiel wäre "to affect" und "to effect". Soll man sich dann im Deutschen so etwas wie gäubig versus glaubig antun?

Shhhhh - 18. Jan, 09:15

Philosophen und Sprachwissenschaftler haben mit diesem Phänomen eher weniger zu tun, da es sich ja aus der Umgangssprache abgeleitet hat. Ein Beispiel:
Es geht hierbei, glaube ich, um nicht weniger als das altbekannte Phänomen, dass Sprecher so lange vereinfachen, wie sie noch immer verstanden werden.
Es geht hierbei glaubig um nicht weniger als das altbekannte Phänomen, dass Sprecher so lange vereinfachen, wie sie noch immer verstanden werden;)
Lo - 16. Jan, 20:09

Benutzer der Ruhrgebietssprache benötigen den Trick, sich das –ig am Ende des Wortes als ein –ich vorzustellen, nicht.
Sie machen es einfach.
Glaubich jedenfalls.

Shhhhh - 18. Jan, 09:16

Was machen sie einfach, tricksen?
Lo - 19. Jan, 11:47

Ja, aber mit "x" ;-)
Trithemius - 18. Jan, 14:25

Wenn "glaubig" aus der Zusammenziehung von "glaube ich" entstanden ist, dann ist das Suffix -ig ein Fall von Hyperkorrektion, die im Rheinland häufig auftritt, wenn der Dialektsprecher sich um standardmäßige Aussprache bemüht. So gibt es dort den Familiennamen Stüttchen, dessen feinerer Zweig sich Stüttgen schreibt. Andererseits kann -ig mit dem "ik" des NIederdeutschen verwandt sein, weshalb die Kontrastschreibung "glaubik" helfen würde, von "gläubig" abzugrenzen.

Shhhhh - 18. Jan, 15:08

Vielleicht gibt es ja schon dialektale Varianten, die Berliner Dialektsprecher würden dann globik schreiben;)

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